Das Leben, ein einziger Irrtum

Der Zufall beherrscht das Leben: Die Physik als Wissenschaft vom Leben zeigt erkennbare Grenzen. Regelmäßig verfehlt sie die im Begriff des Lebens anwesende biologische Spezifität, die Frage nach Leben und Tod, die für sie kein Problem ihres Bereiches ist

Was ist Leben, heißt die Schnittstelle von Physik und MolekularbiologieLeben auf anderen Planeten erfasste nur ein erweiterter Lebensbegriff

VON CORD RIECHELMANN

So wie die erste Hälfte des vergangenen Jahrhunderts das Zeitalter der Atomphysik war, war die zweite Hälfte das der Molekularbiologie. Beide Wissensformen lösten sich dabei nicht in der Form eines Bruches ab, wie er kennzeichnend ist für die Überwindung des ptolemäischen Weltbildes durch das des Kopernikus, sondern gingen auseinander hervor, beziehungsweise ineinander über. Einige der wichtigsten Pionierleistungen der Molekularbiologie wurden von Physikern erbracht. Max Delbrück begründete auf der Suche nach den molekularen Grundlagen der Vererbung die Phagengenetik, Linus Pauling, Nobelpreisträger für Chemie (als Atomwaffengegner noch einmal mit dem Friedensnobelpreis geehrt), entdeckte mit Hilfe der Röntgenstrukturanalyse die Helix-Struktur vieler Proteine, und der im Weltkrieg mit Radarproblemen befasste Physiker Francis Crick rekonstruierte 1953 die Doppelhelixstruktur der DNS.

In der Mitte, an der Schnittstelle von Physik und Molekularbiologie, steht die Frage, was Leben ist. Dank Erwin Schrödinger lässt sich die Frage verorten und datieren. Schrödinger, Physiker, einer der Begründer der Quantenmechanik und Nobelpreisträger, hielt 1943 am Trinity College in Dublin eine Reihe von Vorträgen unter dem Titel „What is life?“ Schrödinger war, nachdem ihm die Nazis seinen Lehrstuhl für theoretische Physik in Graz genommen hatten, einer Einladung nach Dublin gefolgt und beschäftigte sich am Trinity College neben der Physik auch mit Philosophie und Biologie.

„What is life?“ waren seine ersten öffentlichen Äußerungen zur Biologie. Als die Vorträge ein Jahr später als Buch erschienen, wurden sie darauf zum Gegenstand heftiger Diskussionen, man kann den Einfluss, den Schrödingers Ansichten hatten, gar nicht hoch genug einschätzen, und das lag nicht an der Qualität des Buches, sondern an den aufgeworfenen Fragen und der teilweise banalen Form, in der er sie vortrug. Dass es möglich sein muss, lebende Systeme unter den gleichen Gesichtspunkten zu behandeln wie physikalische Systeme, ist der Kerngedanke des Buches. Damit hatte Schrödinger den Physikern ein neues Arbeitsgebiet, nämlich das Leben, erschlossen. Die – mit bislang nicht bekannten staatlichen Fördergeldern bedachten, daher sehr selbstbewussten – Physiker nahmen sich des Feldes genauso selbstbewusst an.

Glanz und Elend dieser physikalischen Lebenssicht manifestierten sich zuletzt an zwei Ereignissen. Zum Elend gehörte die Nachricht, das die Ergebnisse der in den besten Journalen veröffentlichten Arbeiten des weltweit gefeierten südkoreanischen Klonpioniers Hwang Woo Suk allesamt gefälscht waren. Auf der Glanzseite gab es an der Jahreswende 2003/2004 die sensationellen Bilder der gelungenen Marsmissionen der europäischen und der amerikanischen Raumfahrtbehörden zu bestaunen. Den sogenannten Klonforscher kann man hier mit dem Hinweis erst mal vergessen, dass sich trotz aller Sonntagsreden zu Moral und Verfahren der Wissenschaft nichts ändern wird, es wird weiter geklont werden, was das Zeug hält.

Interessanter ist es, sich den methodologischen Fragen der Marsmissionen zuzuwenden. Ein erklärtes Ziel der Expeditionen ist es, auf dem der Erde ähnlichsten Planeten nach Spuren gewesenen Lebens zu suchen. Nach allem, was man bisher weiß, ist es wahrscheinlich, dass der Mars in früheren Jahren seiner Geschichte von Ozeanen bedeckt war, die ähnliche Bedingungen boten wie die Ozeane der Erde, und das macht die Entstehung von Leben auf dem Mars zumindest nicht unwahrscheinlich. Aber welche Kriterien legt man diesem Lebensbegriff zu Grunde? Trotz aller Ähnlichkeit ist der Mars nicht die Erde, und die hier geltenden Bestimmungen des Lebens einfach zu übertragen würde den Blick verengen. Die gegenwärtige Biologie ist vernünftigerweise auf die Erde bezogen, eine Biologie aber, die Leben auf anderen Planeten in Betracht zieht, müsste universell sein und den Lebensbegriff erweitern.

Irdische lebende Systeme sind wesentlich durch drei Eigenschaften gekennzeichnet. Sie sind zur Selbstreproduktion befähigt, denn nur so ist gewährleistet, dass Informationen nicht nach jeder Generation verloren gehen. Sie unterliegen einer stoffwechselabhängigen Regulation, die verhindert, dass sie in einen Gleichgewichtszustand absinken, der jede Veränderung unmöglich machen würde, und sie können evolvieren, das heißt, die Informationen können im Laufe ihrer Vererbung mutieren, also verändert werden. Eine der Grundlagen des Lebens, sei es als Baustoff oder Stoffwechselprodukt, ist der Kohlenstoff. Nimmt man jetzt den Kohlenstoff als Lebensgrundlage aus dieser Definition des Lebendigen heraus und hat, wie ich hier gerade, dazu noch einen Virus auf dem Computer, der sich andauernd umbenennt, also vom Virensuchprogramm zwar gefunden wird, aber nicht beseitigt werden kann, weil er dann schon wieder anders heißt und sich ständig in neue temporäre Dateien einschreibt, dann kann man darin die angegebenen Bedingungen des Lebendigen entdecken.

Theoretische Biologen wie der an der Arizona State University arbeitende Biologiehistoriker Manfred D. Laubichler sehen im Phänomen selbstreplizierender Computerprogramme die Möglichkeit, zu einem universellen Lebensbegriff zu kommen, der kohlenstoffunabhängig eine „neue Form von silikatgestütztem Leben“ darstellt. Für die theoretische Biologie ist ein solcher Lebensbegriff in jedem Fall ein Fortschritt und ganz praktisch für weitere Marsexpeditionen wahrscheinlich auch.

Nun ist es schon jetzt so, dass das „natürliche Leben“ auf der Erde vom „artificial life“ der Computer unterwandert wird. „Wir werden“, schreibt der Nobelpreisträger und langjährige Direktor des Max-Planck-Institutes für Biophysikalische Chemie in Göttingen, Manfred Eigen, in einer Auseinandersetzung mit Schrödingers „What is life“?-Frage, „die genetische Natur des Menschen sehr viel besser erforschen können, als wir uns je erträumt haben; denn es wird Automaten geben, die die 3 Milliarden Buchstaben des menschlichen Erbgutes innerhalb eines Monats zu „lesen“ vermögen.“

Aus Eigens Prophetie spricht das anfänglich bereits erwähnte Selbstbewusstsein der Physikersonntagskinder, für die genetische Mutationen „nichts anderes als die Ersetzung einer Nukleinbase durch eine andere“ (Michel Foucault) sind und für die die aus ihrer Tätigkeit hervorgehenden Risiken keine wissenschaftlichen Fragen sind, sondern Anliegen der Moral und Politik. Denn auch wenn Physiker bei der Aufklärung der molekularen Grundlagen des Lebens großartige Beiträge geliefert haben, verfehlen sie doch regelmäßig die im Begriff des Lebens anwesende biologische Spezifität, die Frage nach Leben und Tod, die kein Problem der Physik ist. Dass Eigen Hiroschima aus einem Mangel an politisch-militärischer Vernunft erklärt und Tschernobyl als Folge fehlender technischer Vernunft sieht, ist Ausdruck eines physikalischen Positivismus, der der Frage nach dem Begriff des Lebens für das Leben und im Leben von Menschen ausweicht. Es hat mit dieser physikalischen Begriffsbildung zu tun, wenn etwa in der Hoffnung, über die Kenntnis der Gene alle Fragen und Schwierigkeiten eines lebenden Organismus wie etwa Krebs in den Griff zu bekommen, das Problem verschwindet, dass der Begriff des Gens bis heute gar nicht einheitlich definiert werden konnte.

Deutlich wird das, wenn man die Untersuchungen des französischen Philosophen und Lehrers von Michel Foucault Georges Canguilhem neben die Untersuchungen Schrödingers und anderer Physiker setzt. Canguilhem hat seine Untersuchung zu „Das Normale und das Pathologische“ 1943, im Jahr von Schrödingers „What is life?“-Vorträgen begonnen. Canguilhem bezieht sich bei der Hinwendung zum Lebensbegriff ausschließlich auf medizinische und biologische Quelltexte und meidet physikalische Terminologien und Methoden. Was er herausfinden will, ist, in welcher Weise das Wissen über das Leben durch die Begriffe, die dieses Wissen artikulieren, bestimmt wird und vielleicht auch verstellt.

Canguilhem arbeitet dabei ähnlich wie der physikalische Lebensbegriff mit den Ergebnissen der Molekularbiologie. Nur interpretiert er den genetischen Code und die Probleme seiner Decodierung nicht in Richtung der Beherrschung der Information. Im Zentrum von Canguilhems Lebensbegriff steht der Irrtum. „Denn auf dem fundamentalsten Niveau des Lebens geben die Spiele des Codes und der Decodierung einem Zufall Raum, der, bevor er Krankheit, Mangel oder Missbildung ist, so etwas wie eine Störung im Informationssystem ist, etwas wie ein ‚Versehen‘. Letztlich ist das Leben ‚das, was zum Irrtum fähig ist‘“, fasst Foucault Canguilhems Denken zusammen. Zukunftsbeherrschungsfantasien, wie sie die physikalischen Molekularbiologen lieben, lassen sich damit nicht ausdrücken, sondern eher jener tiefe Bruch, den Jacques Lacan so kennzeichnet: „Die menschliche Beziehung zur Welt hat etwas tief, initial Lädiertes.“