Zwei Sätze, und alles ist gesagt

Die Wirklichkeit und die Magie des Augenblicks: Wolfgang Kohlhaase, Drehbuchautor seit fast fünfzig Jahren, hat mit „Sommer vorm Balkon“ einen sehr beiläufigen Film über raue Zeiten und die Liebe geschrieben. Schon immer lagen ihm die Menschen von nebenan näher als eine große Theorie des Films

VON ANKE LEWEKE

Es gibt da zunächst diese Einfachheit der Sprache, eine Natürlichkeit der Dialoge, die den Abstand zur Leinwand geringer erscheinen lässt. Dabei müssen die Menschen dort oben nicht unbedingt so sprechen wie wir. Aber man spürt, dass die Worte, Sätze, die Wolfgang Kohlhaase für sie schreibt, ihnen entsprechen. Sei es der aufbegehrende Jugendslang in Gerhard Kleins „Berlin – Ecke Schönhauser“ (1957), der Kantinenplausch der Fabrikarbeiterinnen um Planerfüllung und Feierabend in Volker Schlöndorffs „Die Stille nach dem Schuss“ (2000) oder jetzt das offenherzige Freundinnengespräch in Andreas Dresens „Sommer vorm Balkon“. Seit fast 50 Jahren schreibt der gebürtige Berliner Kohlhaase nun Drehbücher mit Bodenhaftung.

Wann immer man Gespräche mit Wolfgang Kohlhaase liest oder seine eigenen so klar wie schön formulierten Aufsätze zum Film, dann zieht sich das Stichwort Wirklichkeitsnähe wie ein roter Faden durch die Antworten und Gedanken. In einem frühen Interview ist zu lesen, wie nachhaltig ihn der italienische Neorealismus beeindruckt habe. Wie der wahrhaftige Ansatz dieses Kinos ihn und den Regisseur Gerhard Klein in den Fünfzigerjahren ermutigt hatte, selbst auf die Straße zu gehen und an realen Orten, in Hinterhöfen, Torbögen und Wohnküchen Ostberlins zu drehen. Als langjähriger Drehbuchautor der Defa wurde Kohlhaase niemals müde zu betonen, dass die Geschichte von den Menschen in den Produktionsstätten geschrieben werde. Und dass vor allem ihre Schicksale ins Kino gehörten.

„Mir ist schon wichtig, dass ich eine Geschichte erzähle, die etwas mit der alltäglichen Wahrheit zu tun hat, die man manchmal vor der Tür findet“, ist denn auch einer seiner ersten Sätze in unserem Interview. Wenn er da mit einem Glas Wasser im Berliner Café Einstein Unter den Linden sitzt und ganz ruhig seine Haltung zum Kino erläutert, spürt man, dass es Kohlhaase nicht um eine große Theorie des Films geht – sondern schlichtweg um den Menschen von nebenan. „Ich will das Kino nicht als Ganzes auf einen einzigen Sektor festreden. Ich glaube nur, dass es ärmer ist, wenn es nicht von den Leuten handelt, die auch im Publikum sitzen.“

Nike und Katrin, die beiden Liebessucherinnen in Andreas Dresens neuem Film „Sommer vorm Balkon“, könnten tatsächlich unser aller Nachbarinnen sein. Schnell ist man mittendrin in ihren großen und kleinen Alltagssorgen. In der Welt der allein erziehenden Mutter Katrin, gespielt von Inka Friedrich, die verzweifelt einen Job sucht und sich beim Vorstellungsgespräch immer denkbar unbeholfen benimmt. Etwa wenn sie das Angebot auf ein Glas Cognac voreilig annimmt oder gleich vom Stuhl zu kippeln droht. Mit ihrer besten Freundin, der Altenpflegerin Nike (Nadja Uhl), radelt sie zu noch einsameren Existenzen: zur alten Helene, die traurige Lieder auf dem Akkordeon spielt und von ihrer schnippischen Tochter ausgeschimpft wird; zum Witwer Oskar, der immer seinen Kaffee sucht und das Spülen auf der Toilette vergisst. Abends, wenn alles hinter ihnen liegt, kommen Nike und Katrin auf dem Balkon zusammen, besprechen in lauen Sommernächten den Tag, ihre Gefühlslage und was sonst noch alles ansteht. Dabei trinken sie gehörig einen über den Durst.

Eigentlich eine ganz alltägliche Szenerie, doch sie ist auch mit einer Magie belegt, mit der verwunschenen Stimmung einer endlosen Nacht, in der Melancholie und Lebenslust, Träume und Wirklichkeit zusammen an einem Tisch Platz nehmen.

„Erinnern Sie sich?“, will Wolfgang Kohlhaase wissen. „Wenn die beiden am Anfang auf dem Balkon sitzen, sagt die eine: ‚Es wird gar nicht dunkel‘, und die andere antwortet: ‚Es wird schon hell.‘ Das habe ich tatsächlich einmal gehört. Es ist eine schöne, einfache Replik über eine träumerische Nacht, die ihre Zeit verwischt hat. Es braucht nur diese beiden Sätze, und alles ist gesagt.“

Mit Nadja Uhl als String tragende Nike findet der bereits im Drehbuch angelegte, trockene und verknappte Witz seine perfekte Verkörperung. Einerseits ist ihre schnoddrige Art ein Panzer gegen die Unbill des Alltags. Doch spätestens wenn sie der alten Helene eine Geschichte vorliest, spürt man ihr eigentlich zartes Wesen.

Auch wenn es sich bei „Sommer vorm Balkon“ um einen Film handelt, der, wie man so leichthin sagt, seine Geschichte und Figuren auf der Straße gefunden hat, ist er doch voller Kinomomente. Es geht um große Gefühle, die auch in ihrem sozialen Licht erscheinen. „Natürlich wollte ich auch eine Liebesgeschichte erzählen. Aber nicht mit einem großen L“, sagt Kohlhaase. „Es sollte jedoch nicht um Sentimentalitäten gehen, deshalb habe ich einen anderen Untertext gesucht, und der hat mit Durchkommen zu tun.“ So wollen Nike und Katrin endlich jemanden finden, mit dem sie sich nicht nur das Bett, sondern eben auch die ganze Scheiße teilen können. Die Sorge um den Job, um das fehlende Geld und die unsichere Zukunft. Ohne große Worte zu machen – und ohne sich sein Anliegen auf die Fahnen zu schreiben – wird „Sommer vorm Balkon“ ganz beiläufig ein Film über raue Zeiten.

Das ist das Außergewöhnliche dieses Autors: dass seine Wirklichkeitsnähe auch in fünf Jahrzehnten nicht zur Attitüde verkommen ist. Kohlhaases Balkon liegt am Prenzl’ Berg. Mit „Sommer vorm Balkon“ ist er wieder in diesen Berliner Stadtteil zurückgekehrt. Hier spielten schon der Jugendrebellenfilm „Berlin – Ecke Schönhauser“ und „Solo Sunny“, der 1979 von der privaten und beruflichen Identitätssuche einer DDR-Schlagersängerin erzählte. Jedes Mal hat Kohlhaase ein Drehbuch geschrieben, das sich ganz auf den Schauplatz und seine jeweilige Gegenwart einlässt. Es sind Filme, die Bestand haben, weil sie in ihrer Umgebung ruhen. Weil ihre Sprache dem Wesen, der Atmosphäre, dem ganzen Sein eines Ortes entspringt. Und weil sie im empathischen Sinne von den Menschen erzählen, die dort leben. Oder wie Kohlhaase sagt: „Je genauer du an einem Ort bist, desto mehr bedeutet er alle Orte.“

„Sommer vorm Balkon“, Regie: Andreas Dresen, Buch: Wolgang Kohlhaase. Deutschland, 110 Min. Mit Nadja Uhl, Inka Friedrich, Andreas Schmidt