Stadt, Land, Sturm

Binnen fünf Jahren könnte New Orleans wieder aufgebaut sein. Aber nur, wenn alle das wollen

VON ADRIENNE WOLTERSDORF

Eine elegante Hochgeschwindigkeitsbahn bringt die Touristen vom Louis Armstrong International Airport ins French Quarter, das historische Stadtzentrum von New Orleans. Die Trasse ist zugleich die Nabelschnur für die neu gebauten Geschäftsviertel und Wohngebiete. Schulzentren sind inzwischen hübsche multifunktionale Nachbarschaftstreffs, in denen Mittelklasseeltern gemeinsam mit ihren glücklichen Kindern lernen und leben. Die im Spätsommer 2005 in den Sturmfluten versunkenen Armenviertel sind längst verschwunden. Wo einst Schwarze und Latinos gehaust haben, locken Grünanlagen, und kleine Naturschutzgebiete bieten dem üppig fallenden Regenwasser viel Raum zum Versickern …

So etwa stellen sich US-amerikanische Stadtplaner das nach dem Hurrikan „Katrina“ wieder aufgebaute New Orleans vor. „Der Plan liegt schon seit zehn Jahren in den Schubladen des Stadtplanungsamts“, sagt Kristina Ford, die ehemalige Chefin des Amts. Es ist der alte Traum von einem besseren New Orleans – ohne den Dreck der Armensiedlungen, ohne Kriminalität und Drogen. In fünf Jahren, schätzen Visionäre, könnte es tatsächlich einmal so aussehen. Vorausgesetzt, alle Beteiligten einigen sich darauf, dass New Orleans tatsächlich wieder aufgebaut wird.

Versprochen wurde viel, um die im Hurrikan untergegangene Stadt wieder zum Leben zu erwecken. Vier Monate nach ihrer Zerstörung ist „The Big Easy“ – die große, leichtlebige Stadt, wie sie gern genannt wurde – noch immer versunken, in einem zähen Schlamm aus Inkompetenz und Haarspalterei. Noch als die Stadt unter Wasser stand, tauften die Menschen ihre Stadt „Lake George“, nach US-Präsident George W. Bush, der weder ihre Deiche hatte modernisieren lassen noch in den schlimmsten Stunden zu ihnen geeilt war.

Noch immer ist New Orleans ein Schatten seiner selbst. Und das wird es, allem Washingtoner Zweckoptimismus zum Trotz, auch bleiben. Laut Schätzungen leben heute höchstens noch 135.000 der einst 462.260 EinwohnerInnen innerhalb der Stadtgrenzen. In manche verwüsteten Viertel konnten gerade einmal 10 Prozent der ursprünglichen Bewohner zurückkehren. Der Rest bleibt verstreut in den Weiten der USA – viele haben die Hoffnung auf eine Rückkehr inzwischen aufgegeben. Was in der einst blühenden Hafenstadt wächst, sind Scheidungs- und Selbstmordraten, giftige Müllhalden, Liegenschaftspfändungen – und Wut.

„Wir sind dabei, New Orleans zu verlieren“, klagte kürzlich ein Kommentator der New York Times. Übrig bliebe eine leblose Hülle, ein Jazzthemenpark für Touristen. Nur langsam begreifen die, die es am härtesten getroffen hat, die Schwarzen und Latinos, dass ihre Stadt wohl nicht wieder aufgebaut werden, dass es für sie keine Rückkehr geben wird. Viele derer, denen das langsam klar wird, haben Mitte Dezember in der Innenstadt dagegen protestiert. Zur Musik der Soul Rebel Brass Band tanzten sie auf dem Congo Square. „Die meisten wären sofort bereit zurückzukehren“, meint ein Reporter der örtlichen Times Picayune. „Sie würden anpacken, den verschimmelnden Müll wegräumen und noch ein Jahr lang in Zelten und Wohnmobilen leben, wenn sie sicher sein könnten, dass sie dann von anderen als den notdürftig gestopften Deichen geschützt werden würden, die der Hurrikan wie Zuckerwatte weggepustet hat.“ Doch weder hat die Regierung in Washington bisher ein klares Bekenntnis zu New Orleans abgegeben, noch hat die Stadtverwaltung unter dem schwarzen Bürgermeister C. Ray Nagin das Naheliegendste getan. Bis heute hat der Stadtrat nicht mal einen vorläufigen Wiederaufbauplan vorgelegt: Welche Schulen müssen zuerst wieder eröffnet werden? Welche Straßen werden dringend gebraucht? Welche Viertel können gesäubert, welche müssen aufgegeben werden? Zwar hat Nagin eine hochkarätig besetzte, 17-köpfige Wiederaufbaukommission eingesetzt, die seit Wochen unter dem Arbeitstitel „Bring New Orleans Back“ von einem Meeting zum nächsten Abendessen rast. Doch scheint sich die Gruppe, die zur Hälfte aus weißen Geschäftsleuten besteht, nur auf eines einigen zu können: dass sie keinen gemeinsamen Nenner findet.

Der Historiker und Soziologe Mike Davis aus Los Angeles ist sicher, dass der Untergang von New Orleans „eine der am wenigsten natürlichen Naturkatastrophen in der Geschichte Amerikas“ war. Die Stadt, so seine Überzeugung, sei als arme, schwarze Stadt – 67 Prozent der Bevölkerung sind Afroamerikaner, die noch dazu mehrheitlich die Demokraten wählen – von der republikanischen Regierung längst abgeschrieben worden. Davis beschreibt dies als die „Vernachlässigung der amerikanischen Städte“, die spätestens in den Sechzigerjahren unter Präsident Richard Nixon begann und seitdem zum Erblühen der Vororte einerseits und dem gleichzeitigen Verfall vieler Innenstädte andererseits geführt habe.

Noch immer vergeht kaum ein Tag, an dem nicht landesweit Fernsehen und Zeitungen das traurige Schicksal der Familien beschreiben, die in Wohnwagen, Zelten, Hotels oder Gastfamilien gestrandet sind. Sie alle fehlen der Stadt, denn die kleinen New Orleanser Betriebe können ihre Geschäfte aus Mangel an Arbeitskräften nicht aufnehmen. Bäcker, Handwerker, Händler – der große Reibach des Wiederaufbaus läuft ohne sie. Denn die Bush-Regierung hatte es sehr eilig, die Millionenaufträge mit ihr genehmen Konzernen abzuschließen: Halliburton, Blackwater Security, die Shaw-Gruppe – bekannte Größen aus dem überaus profitablen Wiederaufbauprogramm im Irak.

Der Name „Katrina“ bedeute so viel wie Reinigung, Säuberung, hat neulich jemand Ronnie Nunez erzählt. Der 61-Jährige glaubt es. Weil es so gut passt. Sein Haus, im mittelständischen St.-Bernard-Viertel gelegen, wird eines der Ersten sein, die dieser Tage von der größten Bulldozeraktion der Regierung im Gebiet New Orleans eingestampft werden. Nunez sieht in dieser Säuberungsaktion eine Chance, sein durch Scheidung und Streit vermasseltes Leben noch einmal neu ausrichten zu können. Er hat als Erster sein Haus der Stadtverwaltung zum Experimentieren angeboten: Wie lange dauert so eine Bulldozertour, was kostet diese Reinigungsaktion?

Nur wenige hundert Meter weiter, im angrenzenden Armenviertel Lower Ninth Ward, überwiegen die „No Bulldozing!“-Transparente der entsetzten Einwohner. Auch hier sollen in den kommenden Wochen vergammelte Häuserreste weggeräumt werden. Nachdem „Katrina“ die Deiche eingerissen hatte, stand hier das Wasser bis über die Dachfirste. Die Bewohner fürchten, dass deshalb ihr unter dem Meeresspiegel liegendes Viertel nicht wieder aufgebaut wird und sie aus der Stadt in die Vororte verdrängt werden sollen.

Anders als ihre schwarzen Nachbarn in Lower Ninth Warth waren in St. Bernard die meisten Besitzer ihrer Häuser gegen die Flut versichert. Viele von ihnen wollen alles so schnell wie möglich wieder aufbauen, obwohl das Wasser stellenweise fast sechs Meter hoch stand und nur noch 10 von 25.000 Häusern bewohnbar sind. Die Stadtverwaltung erteilt einstweilen allen eine Baugenehmigung – planlos, wie das Urban Land Institute (ULI) in Washington kritisiert. „Das fördert eine alptraumhafte Zahnlückenbebauung mit ungenügender Infrastruktur, die zudem vom nächsten Hurrikan wieder überflutet werden könnte“, ärgert sich Michael Pitchford, ULI-Experte. Ein Szenario, dass der Stadt im erneuten Krisenfall den Todesstoß versetzen könnte.