Gucklöcher schärfen

Im Hamburger Bahnhof in Berlin bringt die Bildhauerin Ulrike Grossarth das Denken in Bewegung. Wie der Körper das Erkennen formt, verfolgt sie in komplexen Arrangements des Materials

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Es gibt eine kleine Zeichnung aus der Serie „Handstudien“ von Ulrike Grossarth, in der zwei Hände eine schwarze Scheibe mit zwei Löchern halten. Man stellt sich gleich Gucklöcher vor, Sehhilfen, mit denen der die Scheibe Haltende entweder das eigene Sehen in die Ferne fokussiert oder durch die sein eigener Körper, von dem sonst nichts zu sehen ist, ausschnittsweise betrachtet werden kann. Auf jeden Fall wirkt die Zeichnung wie die Anleitung zu einer Übung, um den Wegen des eigenen Sehens und seiner Abhängigkeit von den Bedingtheiten des Körpers, wie etwa der Symmetrie, auf die Spur zu kommen. Damit taugt die Zeichnung gut als Einführung in das Werk von Ulrike Grossarth, die in allen Arbeiten nach dem Zusammenhang zwischen Handeln und Begreifen, zwischen Erkenntnis und dem Körper des Erkennenden fragt.

Tatsächlich ist die Ausstellung „Ulrike Grossarth. 1, 2, 3, 4, 5 – Umgebung“ in der Reihe „Werkraum“ im Hamburger Bahnhof angelegt wie ein Parcours, der die Aufmerksamkeit des Besuchers nicht zuletzt darauf lenkt, wie er sich denn selbst zwischen den Dingen bewegt. In der Installation „Bau“ im ersten Raum fordern die Dinge ein vorsichtiges Hin- und Hergehen zwischen Tischen und Projektoren, um nicht über Kabel zu stolpern und nichts von den fragilen Aufbauten umzustoßen, und um die eigenen Schatten zu beobachten, die durch die vielen Lichtwerfer an den Wänden auftauchen.

Im letzten Raum dagegen muss sich der Besucher bücken oder auf Zehenspitzen stellen, um durch Gucklöcher in der Wand den Blick auf ein Videotableau zu bekommen. „Neue Erkenntnisweisen müssen sich mit dem Körper verbinden lassen, sonst werden sie zu Ideologien“, schreibt Ulrike Grossarth im Wandtext zu der Videoarbeit, in der man drei königlich kostümierte Gestalten sieht, die beidhändig arbeiten. Die eine Hand hält etwas, die andere schiebt mit einem langen Stab abstrakte Gegenstände auf einem Feld hin und her. Die Bedeutung der Gegenstände, die sie halten und untereinander tauschen, lässt sich nicht mehr bestimmen; ihre Bewegung gleicht einem Spiel, bei dem das Wichtigste der ständige Austausch zu sein scheint.

Die Arbeiten von Ulrike Grossarth haben stets Modellcharakter: Sie breitet Instrumentarien aus, die bestimmte Erfahrungsweisen befördern sollen oder Versuche ermöglichen. Dabei ist ihre Herangehensweise oft von verblüffender Einfachheit dort, wo sie Sprache und Begriffe auf ihre physische Abhängigkeit überprüfen will. Unter den Dingen auf den Tischen finden sich zum Beispiel leere Konservendosen und Zylinder aus Gips, die auf die Aktion zurückgehen, „den Kern der Dinge“ aufzuspüren. „Bei solchen hochtrabenden Versuchen“, kommentiert die Künstlerin auf ihrer Website, „hilft nur ein völlig naives Vorgehen. Da der Kern in der raum-zeitlichen Mitte des Gegenstandes vermutet wird, nahm ich eine leere Dose und markierte die Mitte mit einem Rundstab. Dann füllte ich das Gefäß mit Gips. Nach dem Erkalten der Gießmasse entfernte ich den ‚Kern‘, so dass ein Hohlraum übrig blieb.“ Mit diesem Negativ hat sie den Löchern und kreisrunden Ausschnitten, die überall in ihrem Werk auftauchen, ein weiteres hinzugefügt.

Schon allein wenn man sich nur an den Analogien in den Oberflächen und Formen orientiert, offenbart sich die Vernetzung ihres Werks. Kreise, Löcher, Lichtpunkte, Zylinder aus Gips, grüne Scheiben: Ständig verweisen die Formen aufeinander. Andere Verbindungsketten bilden die Farben, wunderbare skulpturale Ansammlungen sind aus farbigen Bechern und Flaschen oder gläsernen Blöcken entstanden. Die nächste Verbindung liegt in „Bau I“ gerade im Wechsel der Ordnungsmuster: Es gibt die komprimierte Ordnung, in der Brote, Bücher, getrocknete Aprikosen, Haushaltsreiniger, Teepackungen usw. zu einem akkuraten Block gestapelt sind; die horizontale Ordnung, in der alles Kante an Kante liegt, oder die geschüttete Ordnung, in der kein Muster zu finden ist. Im nächsten Schritt der Betrachtung der Dinge auf den Tischen fällt die Veränderung ihrer Funktionen auf: Behälter etwa werden zu Haltern in fragilen Materialketten.

Instrumentarien der Welterfassung waren auch die Enzyklopädien des 17. Jahrhunderts, mit denen sich die Berliner Künstlerin in Grafiken und einem gebauten „Salle des Pères“ beschäftigt. Ihre Collagen fragen danach, was im blinden Fleck der rationalen Erfassung der Gegebenheiten der Welt lag. Mondgesichtige Geister spuken in den Zeichnungen der Werkstätten und menschengroße Werkzeuge tanzen, mit Grafit gezeichnet, über die Holzwände des „Salle des Pères“. Er ist Marcel Broodthaers gewidmet, der selbst schon die Bildatlanten der Wissenschaft mit Begeisterung in künstlerische Projekte überführte und hier von Ulrike Grossarth unter ihre „Väter“ eingemeindet wird.

Die Ausstellung ist reich an Vorschlägen, spielerisch in die Geschichte der Wahrnehmung und der Kultur einzusteigen. Ulrike Grossarth, die seit sieben Jahren an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden lehrt, bietet auch einen Workshop (2. Februar) in ihrer Ausstellung an. Einfach zugänglich ist die Sache dennoch nicht. Denn wenn die Künstlerin auch körperliche und damit eigentlich einfache Erkenntnisformen wieder in ihr Recht zu setzen versucht, so geschieht dies doch stets von einer Position der Geistesgeschichte aus, die sich gerade davon weit entfernt hat. Sie kritisiert die Leibfeindlichkeit des abstrakten Denkens. Und kann doch der Falle nicht entkommen, dass man in ihren Ausstellungen zuerst einmal denkt, wie kompliziert das alles aussieht.

Ulrike Grossarth, Hamburger Bahnhof, Berlin, bis 5. März