Schock und Genie

Am Neujahrstag vor neun Jahren starb der US-Musiker Townes Van Zandt mit nur 52 Jahren. Seit kurzem läuft in den Kinos ein Dokumentarfilm über Leben und Werk des notorischen Außenseiters

von CHRISTINA KRETSCHMER

Steve Earle, Countryrocker und Politaktivist, war schon als Jugendlicher so fasziniert von Townes Van Zandt, dass er dessen Gitarrenkoffer trug, nur um in seiner Nähe zu sein. Earle ist auch verantwortlich für die wohl meistzitierte Äußerung über den Musiker: „Townes Van Zandt ist der beste Songwriter der Welt, und ich werde das auch sagen, wenn ich mit meinen Cowboystiefeln auf Bob Dylans Kaffeetischchen stehe.“ Van Zandt selbst nahm das Kompliment eher gelassen auf, als er davon erfuhr: „Das macht mich ein wenig nervös. Ich habe Bob Dylans Bodyguards getroffen, und wenn Steve Earle meint, er könnte sich auf Dylans Tisch stellen, liegt er sehr falsch.“

Van Zandt (1944–1997) war einer der begabtesten Songwriter seiner Generation – ob er nun Country, Folk oder Blues spielte – und zugleich ein erfolgloser, selbstzerstörerischer und in mancher Hinsicht verantwortungslos handelnder Mensch. Gerade diese Zerrissenheit und Tragik macht einen großen Teil seiner Faszination aus: ein Verlierer im echten Leben, der mit seiner Musik der Welt etwas gegeben hat, von dem sie heute noch zehren kann.

In den Kinos läuft seit zwei Wochen die Dokumentation „Be Here To Love Me – Townes Van Zandt“. Die Filmemacherin Margaret Brown hat eine Collage aus Interviews, Songs und privaten Aufnahmen zusammengestellt. Intim und berührend erinnern sich viele seiner Wegbegleiter und Musikerkollegen wie Kris Kristofferson oder Willie Nelson. Countrysänger Guy Clarke etwa wird im Laufe des Interviews immer betrunkener, weil er zu Ehren Van Zandts schon am Vormittag begonnen hat, Tequila zu trinken. Auch Van Zandts drei Exfrauen und seine drei Kinder kommen zu Wort. Dabei spielt die Musik Van Zandts im Film eine gleichberechtigte Rolle neben den Archivaufnahmen, diversen Interviews und atmosphärischen Roadmovie-Bildern. Wenn der Hippiecowboy Van Zandt auf der Treppe seines White-Trash-Wohnwagens mit einem Gewehr in der Hand herumfuchtelt und kurze Zeit später in diesem Wohnwagen einige seiner Lieder für einen zahnlosen Schwarzen singt, dem dabei die Tränen kommen, bekommt der Zuschauer ein Gefühl für das Talent und das Wesen dieses Menschen.

Sohn einer wohlhabenden texanischen Familie, schien das Leben von Townes Van Zandt zu Beginn leicht und verheißungsvoll. Seine Vorfahren waren an der Gründung des Staates Texas beteiligt, sogar ein Landstrich ist nach ihnen benannt: Van Zandt County. Doch schon als er ein Teenager war, wurde bei Townes Van Zandt eine manische Depression diagnostiziert, die mit Elektroschocks behandelt wurde. Was zu jener Zeit als das Nonplusultra einer psychiatrischen Behandlung galt, beeinflusste Wesen und Werden Van Zandts nachhaltig: Die Elektroschocks hatten zur Folge, dass er alle Erinnerungen an seine Kindheit verlor und zeitweise nicht einmal mehr seine Mutter erkannte. „Ich hatte eine gute Kindheit. Ich erinnere mich nicht daran, aber man hat es mir erzählt.“

Als er mit elf Jahren Elvis Presley im Fernsehen in der „Ed Sullivan Show“ sah, flippte er geradezu aus. „Plötzlich realisierte ich, dass man sein Geld damit verdienen kann, Gitarre zu spielen und dazu zu singen.“ Zu Weihnachten bekam er von seinem Vater eine Gitarre geschenkt, unter der Bedingung, dass er das Folkstück „Fraulein“ spielen lernte. Bald nach dem Elvis-Erweckungserlebnis lernte er die Musik von Ricky Nelson, Jerry Lee Lewis und auch von Countrygröße Johnny Cash kennen oder die Songs der texanischen Bluesmusiker Lightnin Hopkins und Mance Lipscomb.

Nach der Highschool begann er 1962 ein Wirtschaftsstudium an der University of Colorado in Boulder. Eine eher absurde Wahl, bedenkt man, dass Van Zandt in seinem ganzen Leben keinerlei Verhältnis zu Geld hatte und es – gesetzt den Fall, er besaß welches – lieber verspielte oder Obdachlosen gab, anstatt es anzulegen.

In dieser Zeit begann er, sich tagelang einzuschließen, Gitarre zu üben oder stundenlang die Platten von Lightnin Hopkins, Hank Williams und Bob Dylan zu hören. Nach diesen Phasen der Isolation veranstaltete er regelmäßig ausufernde Partys. Bei einer dieser Veranstaltungen stürzte er aus dem Fenster seines Apartments. Er wollte wissen, wie es sich anfühlt, die Kontrolle zu verlieren und zu fallen. „Ich fiel und landete vier Stockwerke tiefer flach auf meinem Rücken mit einer Weinflasche in der Hand, aus der ich keinen Tropfen verschüttet hatte.“ Die erschrockenen Schulterklopfer seiner per Aufzug herbeigeeilten Freunde, meinte er, seien schmerzhafter gewesen als der Aufprall aus mehr als zehn Metern Höhe. Als seine Eltern von diesem Zwischenfall erfuhren, brachten sie ihn in ein texanisches Krankenhaus, wo er drei Monate mit Insulinschocktherapie behandelt wurde.

Aus der Psychiatrie entlassen, schrieb er sich an der University of Houston ein und heiratete 1965 seine erste Frau Fran Petters. Er begann, in kleinen Cafés aufzutreten und Lieder zu schreiben. Lustige, leichte Songs, um die Aufmerksamkeit auch des letzten Biertrinkers an der Theke zu erreichen. Erst „The Times They Are A-Changin“ von Bob Dylan brachte ihn dazu, seine Songwriterarbeit ernster zu nehmen. „Ich merkte, dass man Songs schreiben kann, die wirklich anders sind.“ Er verschrieb sich der idealistischen Mission, die Welt mit einem Song zu retten.

Van Zandt begann, über die Außenseiter der Gesellschaft zu singen, mit denen er sich immer schnell anfreundete. Einer seiner bekanntesten Songs, „Waiting Around To Die“, reflektiert einen Nachmittag, den er trinkend mit einem alten Mann verbracht hatte. Van Zandt empfand große Sympathie für Menschen; reich oder berühmt zu werden dagegen interessierte ihn nicht besonders. Die Kehrseite seiner Sensibilität waren lange Phasen von Depression. Seine Schwester Donna Spence ist davon überzeugt, dass viele seiner Probleme sich aus seinem übersensiblen Wesen und seiner fast krankhaften Fähigkeit zu Empathie und Mitleiden erklärten. Auf die Frage, warum seine Lieder immer so traurig seien, antwortete Van Zandt einmal, es seien doch gar nicht alle Songs traurig. Manche seien auch hoffnungslos.

Townes Van Zandt empfand sich als entwurzelt. In seiner Kindheit war die Familie von Staat zu Staat gezogen, unter anderem nach Texas, Montana und Colorado, immer den Jobs des Vaters folgend. Als Erwachsener entschied sich Van Zandt bewusst für ein heimatloses Leben auf Bühnen, in Motels und auf Autobahnen. Von jungen Nachwuchsmusikern gefragt, was sie tun müssten, um Musik machen zu können, wie er sie machte, empfahl er ihnen, alles hinter sich zu lassen: Geld, Sicherheit, Glück, Freiheit. Erst dann könnten sie sich eine Gitarre nehmen und losziehen.

Dabei verzichtete Townes Van Zandt keineswegs auf Familie. Er heiratete drei Mal, alle Ehen wurden nach wenigen Jahren geschieden. Keine der drei Exfrauen und keines der Kinder äußert sich in Margaret Browns Film verbittert über ihn. Nur sein ältester Sohn J. T. wirft einmal die Frage auf, ob die radikale Entscheidung seines Vaters für die Musik und dieses rastlose Leben wirklich ein mutiger und selbstloser Schritt gewesen sei – oder nur die billige Entschuldigung einer schwachen Persönlichkeit, die keine Verantwortung übernehmen konnte oder wollte.

Mit seinen ersten Platten und Erfolgen wurde Van Zandt schnell zum Vorbild anderer Musiker und bald als wichtigster Südstaatenmusiker seit Hank Williams gehandelt. Er schaffte es, die Sprache so wirkungsvoll einzusetzen, dass seine Lieder auch als Gedichte funktionieren. Dabei verzichtete er auf alle Füllwörter oder jedwede Verzierung. Auch literarische Vorbilder wie Emily Dickinson, Dylan Thomas oder Robert Frost inspirierten ihn. Seinen Zuhörern erzählte er oft, dass er selbst wenig bis gar nichts mit der Entstehung seiner Songs zu tun habe. „If I Needed You“ etwa, später ein Hit für Emmylou Harris und Don Williams, sei ihm eines Nachts im Traum eingefallen. Er träumte, er sei ein Folksänger und sänge dieses Lied auf der Bühne eines kleinen Clubs. Dann wachte er gerade lange genug auf, um den Text aufzuschreiben und sich zu versichern, dass er die Melodie auch am nächsten Morgen im Kopf hätte, und schlief sofort wieder ein. Was sich anhört wie höhere Inspiration, war viel eher das Ergebnis eines Lebens, das sich voll und ganz auf Musik und das Schreiben von Songs konzentrierte. „Mein Ziel“, sagte er, „ist es, einige Songs zu schreiben, die so gut sind, dass niemand sie versteht, mich eingeschlossen.“

Bald wurde Van Zandt als Vorband berühmter Legenden wie Lightnin Hopkins oder Doc Watson gebucht. Doch im Gegensatz zu seinen Kollegen, die vom wilden Leben sangen, lebte er es bis zur Selbstzerstörung. Townes Van Zandt hatte sein Leben lang mit vielen Dämonen zu kämpfen. Er war spielsüchtig, alkoholabhängig, heroinsüchtig. Welche Droge man sich vorstellen kann, er hat sie mit Sicherheit bis zum Exzess ausprobiert. Dabei wurde er von allen, die ihn kennen lernten, als überaus liebenswerter und höflicher Mensch beschrieben. Er hatte eine einnehmende Persönlichkeit, und auf der Bühne war ihm die mucksmäuschenstille Aufmerksamkeit seines Publikums sicher.

Obwohl einige seiner Songs als Coverversionen in die Charts kamen, ist Townes Van Zandt zeit seines Lebens nicht über den Status des Geheimtipps hinausgekommen. Noch heute gilt er als Songwriter der Songwriter, unter seinen Verehrern sind Berühmtheiten wie Emmylou Harris, Norah Jones oder Lyle Lovett. Dass er es während seiner gesamten Laufbahn als Musiker nie zu dem Bekanntheitsgrad brachte, der ihm eigentlich zugestanden hätte, lag auch in seiner selbstzerstörerischen Persönlichkeit. Für Promoter, Konzertveranstalter und andere potenzielle Mitarbeiter war Van Zandt ein Risiko: Er konnte auch noch gegen Ende seines Lebens Konzerte geben, die von einer umwerfenden Qualität und Intensität waren. In schlechten Phasen waren sie unerträglich und grausam mitanzusehen. Die Abstände zwischen seinen Veröffentlichungen waren geradezu horrend lang – mitunter brauchte er zehn Jahre für eine neue Platte. Zudem hatte er auch unverschuldetes Pech: Einige der eher obskuren Labels, auf denen er seine Platten veröffentlichte, gingen kurz darauf Pleite. Selten verkaufte er mehr als 7.000 Exemplare einer Platte, viele seiner Alben waren jahrelang nicht erhältlich.

Als er 1996 noch einmal auf seiner Europatournee nach Deutschland kam, war er in einem so desolaten Zustand, dass er Helfer brauchte, die ihn auf die Bühne hievten. Freunde mussten für ihn bei McDonald’s Cola mit Eis holen, in die er die kleinen Wodkafläschchen leerte, die er in einer Sporttasche stets bei sich trug. Ein halbes Jahr später starb Townes Van Zandt am Neujahrstag 1997 an Herzversagen nach einer schweren Hüftoperation, genau vierundvierzig Jahre nach seinem großen Idol Hank Williams. Der war, ähnlich einsam, am Neujahrstag 1953 auf dem Rücksitz seines Cadillacs gestorben. Erst nach einer längeren Fahrt hatte sein Chauffeur festgestellt, dass er tot war.

Genau wie Williams war Van Zandt davon überzeugt, dass er erst nach seinem Tod berühmt werden würde. Als sein Freund und Kollege Guy Clark sich auf Townes Van Zandts Beerdigung die Gitarre umschnallte, meinte er lakonisch, er habe diesen Auftritt schon vor dreißig Jahren reserviert. Dann begann er zu spielen.

CHRISTINA KRETSCHMER, 28, ist freie Autorin und lebt in München