Lippen soll man küssen

Woody Allen ist Geschichte – aber nun reden die Leute tatsächlich über seinen neuen Film „Match Point“. Warum? Und was hat Scarlett „Schmolllippe“ Johansson damit zu tun? Alle Antworten

VON PETER UNFRIED

Hinweis: Wer „Match Point“ noch sehen und sich die Spannung bewahren will, sollte sich das Weiterlesen gut überlegen.

Als das Licht anging, fühlte ich mich elend. Richtig elend. Warum? Weil Woody Allens neuer Film „Match Point“ richtig schlecht ist. Dachte, oder besser: hoffte ich. „Match Point“ ist die Geschichte des gescheiterten Tennisprofis Chris Wilton, der sich in die Londoner Upper Class hochschläft. Zur Bewahrung seines neuen sozialen Status erschießt er seine schwangeren Geliebte und zwecks Vertuschung auch deren Nachbarin. Er kommt davon, weil der Matchball auf die richtige Seite des Netzes fällt. Gewissensprobleme kennt er nicht. Dafür ist seine Frau endlich schwanger. Ende.

Je länger dieser Film lief, desto verkrampfter war ich geworden. Zum Lachen war das aber nicht. Am Ende hatte ich tatsächlich die Hände vor dem Gesicht.

Aber: Das Kino war gerammelt voll, einige Leute klatschten sogar, der Film ist von 0 auf 5 in die Kinocharts eingestiegen, und im Büro reden sie seit Tagen von nichts anderem.

Was ist da los? Allen ist 70, und bei seinen letzten fünf Filmen waren noch etwa je vier Hanseln im Kino. Ich startete eine unrepräsentative Umfrage, wurde überschüttet mit Antworten und versuche zusammenzufassen, wie Allen es geschafft hat, die Menschen 2006 zu bewegen.

Der erste Verdacht war: Er hat die Rolle der Nola mit der angesagten Scarlett Johansson besetzt, um an das Massen-, das junge und das Schmolllippenpublikum ranzukommen. Umfrageauswertung: Schmolllippen „schaden nie“ (sagt selbst Chiara Ohovens Verlobter). Männer stehen „definitiv“ da drauf. (Auch der männliche Hauptdarsteller hat Schmolllippen und ist sexuell sehr attraktiv.) Aber nicht Johansson macht den Film attraktiv, sondern der Film sie. Das Interesse wird durch den Paradigmenwechsel vom lustigen zum richtig düsteren Woody geweckt.

Allen hat nicht nur Nazis, Holocaust, New York, Jazz, Kunst und all das lustige und zynische und kluge Gequatsche aus den Salons des Neobürgertums der 70er hinter sich gelassen, sondern es mit „Match Point“ auf das reduziert, was es sein könnte: intellektuelle Masturbation. Sein furchtbarer Verdacht: Kunst ist bedeutungslos.

Ja, doch: Es gibt einen zusätzlichen Kick, wenn man seinen Dostojewski kennt und in Wilton die Umkehrung des guten alten Raskolnikow erkennt. Der ermordet in „Schuld und Sühne“ auch eine Frau und eine zweite zur Vertuschung. Aber am Ende gesteht und büßt er (im Gegensatz zu Wilton), weil ihn eine Hure mit einem Herzen aus Gold (im Gegensatz zu Johansson) und die erlösende Kraft der Liebe (gibt’s nicht) Gottes Existenz (gibt’s schon gar nicht) erkennen lässt. Dostojewskij ist old school, sagt Allen. Gut zu wissen, aber gibt das auch einen echten Erkenntnisgewinn, oder driftet man bloß ab ins Feuilletonistische, also Spielerische?

„Match Point“ ist verdammt nah dran am Leben, das ist das Neue. Das ist, was so wehtut. Geld oder Liebe. Geld oder Sex. Liebe oder Sex. Wo keine Schuld ist, ist auch keine Sühne. Oder umgekehrt. Gerechtigkeit ist Zufall. Leben ist nicht berechenbar, sondern eine Frage des Glücks. Moral? Haha.

Aber wenigstens Dauersex mit der schärfsten Frau des Universums? Meine anonymisierte Umfrage ergibt: Ja, man (und teilweise auch frau) sieht sie und will sie knallen. Kein kultureller und gesellschaftlicher Überbau. Freud wird nicht zitiert. Sondern bewiesen. Der entscheidende Johansson-Moment des Film ist aber jener, in dem sie sich von einem Sexsymbol zu einer dauerkeifenden Schwangeren verwandelt. Das ist der Augenblick, in dem der Schmollmund aus der Wahrnehmung verschwindet – und die Dauerverkrampfung in andere Körperbereiche wechselt. Das war das, und da kann man sie gleich abknallen.

Die Upper-Class-Britin dagegen: Man denke nur an den Moment, in dem diese liebe, kluge, kunstbeflissene, sexuell strunzlangweilige Ehefrau ihren Aufsteiger mit dem Fieberthermometer im Mund zum Kinderzeugen auffordert. Das relativiert sogar das Superloft mit Westminsterblick. Aaah.

Leben! Es geht sich einfach nicht aus. Wir haben aber nichts anderes. Gott, ist mir schlecht.