Der Große Grieche

Ein rosa Hemd und die weibliche Homophobie

Lange Zeit war die Planstelle des Großen Griechen in der Welt unbesetzt. In Dashiell Hammetts Meisterroman „Der Malteser Falke“ heißt ein Kapitel „Die Hand des Griechen“, weil ebendort Macht und Intrige zusammenfinden. Anthony Quinn, dem als Schauspieler keine Ethnie fremd blieb, gab in der Rolle des Alexis Sorbas den GroGrie, den Großen Griechen. Ihm folgte, realiter, Aristoteles Onassis, milliardenschwerer Reeder und Tröster der Witwe Jackie Kennedy und Träger immerhin noch zentnerschwerer Gewaltbrillen.

Dann kam lange, lange nichts, der Posten verwaiste, blieb vakant aus Mangel an geeigneter Kandidatenschaft. Otto Rehhagels kurzzeitiger Triumph blieb flüchtig; der Steinzeitfußball, mit dem die von ihm trainierte griechische Fußballmannschaft im Jahr 2004 Europameister wurde, verschwand danach in der ihm angemessenen Versenkung.

Im Verborgenen aber reifte ein Mann heran, der das Zeug dazu hat, der Welt den Großen Griechen zurückzugeben, dessen sie so dringend bedarf. Herr S. heißt er, in seinem Ladenlokal in Kreuzberg laufen die Fäden zusammen, hier werden die Strippen gezogen, von hier aus regiert Herr S. die Welt, versorgt jedermann mit bestem Kaffee und vorzüglicher Nahrung, und nichts gibt es, das er nicht in kürzester Frist auftreiben könnte.

Eine astrologische Schnellanalyse für den Herrn? Grippeabweisende Tropfen? Ein Rehrücken? Ein guter Rat für die depressive Dame? Herr S. hat oder besorgt alles, und vorbildlich gleichmütig beherrscht er die Menschen, indem er ihnen dient.

Eines späteren Nachmittags beim Kaffee wies sein sonst so unbedrücktes Gesicht starken Faltenwurf auf. Etwas umwölkte seine Gedanken, und nach längerem höflichen Schweigen sprach er die Sache an. Gern, teilte mir Herr S. mit, trage er rosa Oberhemden, und das seit langem, also schon Jahre, bevor es in Mode kam. Mich habe er ja auch schon des Öfteren in einem rosa Hemd gesehen, und so, fuhr er fragend fort, könne ich ihm vielleicht in einer heiklen Angelegenheit einen Rat geben?

Ich nickte stumm und ermunternd, Herr S. eröffnete mir seine Lage. Die Ausgeglichenheit seines Lebens sei in Gefahr, bekannte er. Bereits mehrfach war ihm von verschiedenen Frauen der sonst stets gezollte Respekt verweigert worden, und zwar immer und ausschließlich dann, wenn er ein rosa Oberhemd getragen habe. Er sei sogar – hier verjüngten sich seine Gesichtszüge ins Gequälte – in die Nähe der Homosexualität gerückt worden. Und das alles, schloss Herr S. nicht ohne Erbitterung, weil die rosa Hemden, die er gut und würdig zu tragen wisse und in denen er sich wohl fühle, von Frauen als Indiz für Schwäche und mangelnde Männlichkeit fehlinterpretiert würden.

Was sollte ich dazu sagen? Homosexualität bedeutet mir nichts, sie ist ganz egal, und wem der öffentliche Bohei ums irre schicke Schwulsein zu viel ist, kann ihn ja mit Egon Friedells lustigem Diktum auskontern: „Ich verstehe nicht, wie jemand homosexuell sein kann. Das Normale ist doch schon unangenehm genug.“ Auf gar keinen Fall muss man auf den Anwurf des Homosexuellseins so unentspannt reagieren wie Marcel Proust, der sofort ein Duell forderte, wenn er der Homosexualität geziehen wurde. Prousts Satz, „Überlassen wir die schönen Frauen den phantasielosen Männern“, gab immer wieder Anlass zu dem Spott, Proust habe alle Frauen den Männern überlassen, die er „phantasielos“ nannte, weil sie heterosexuell waren. Als Mann von anderen Männern homosexuell genannt zu werden, kann kränkend nur für jemanden sein, der es auch tatsächlich ist. Ein selbstbewusster Heterosexueller erkennt im „Der ist doch schwul!“-Geschrei die psychopathologische Beschaffenheit der Schreier.

Bei Herrn S., dem Großen Griechen, lag die Sache anders. Seine Situation war in der Tat misslich: Ihn verdächtigten Frauen, homosexuell zu sein, und sie nahmen ihre Unterstellung zum Anlass, ihn schlecht zu behandeln. Wie garstig! Und das alles auf Grundlage eines rosa Oberhemds – gegen das allenfalls einzuwenden wäre, dass auch die Schleimschnecken Beckmann und Kerner hin und wieder eins tragen. Aber einem Mann daraus den Strick der Homosexualität zu drehen, schien äußerst niederträchtig.

War denn die ganze Angelegenheit so trostfern finster, so tintenschwarz und ohne jeden Lichtblick für Herrn S.? Den Großen Griechen verzweifelt zu sehen, jammerte mich. Und dann sah ich das Licht. „Klar! Homophobie!“, rief ich. „Homophobie ist Frauensache! Frauen haben ja auch wirklich Grund dazu – jeder Homosexuelle ist ein Mann weniger im potenziellen Fundus, aus dem sie sich bedienen. Von den schrecklichen Schauspielerinnen abgesehen, die sich mit Schwulen schmücken, die dann aber auch so was von bunt und glitzernd oder tuckig sein müssen, wollen Frauen nicht, dass Männer homosexuell sind. So gesehen ist weibliche Homophobie völlig einleuchtend! Homophobie is coming home!“

Und dann sang ich, von einem Bein aufs andere hüpfend, immer wieder: „It’s coming home … it’s coming home … it’s coming home!“ Herr S., der mich zunächst mit einer gewissen Entgeisterung betrachtet hatte, stimmte bald zögernd, dann immer energischer ein, und am Ende gelang es uns, zu dieser schönen Melodie gemeinsam einen Syrtaki zu tanzen. Wir beide wussten: Der weibliche Homosexualitätsanwurf war eine Provokation, ein umgedrehtes Kompliment quasi, um die wahre Männlichkeit aus Herrn S. herauszukitzeln. Die Frauen, die ihn scheinbar gekränkt hatten, wollten in Wahrheit ihn, den Großen Griechen, einen richtigen Mann eben – und wenn er das war, dann würden sie ihm sein rosa Hemd mit Freuden vom Leib reißen und später gegebenenfalls sogar waschen und bügeln!

Glücklich, ein Weltwirrsal entwirrt zu haben, und mit dem Leben versöhnt, tranken Herr S. und ich noch ein weiteres Tässchen Kaffee. Herr S. dankte mir, und auch ich dankte ihm, dem Großen Griechen. Denn nur im Dialog mit einem Angehörigen eines alten Kulturvolkes lassen sich die Widrigkeiten der Welt in ihre Schranken weisen.

WIGLAF DROSTE