H5N1 erreicht Tourismusgebiete

Vogelgrippe II: In der Türkei werden immer neue Infektionsherde entdeckt. Experten glauben, dass sich viel mehr Menschen angesteckt haben als bekannt

BERLIN taz ■ In der Türkei ist die Vogelgrippe erstmals auch in einem Urlaubsgebiet nachgewiesen worden. Wie türkische Medien berichteten, wurde das Virus nahe der Stadt Kusadasi an der ägäischen Küste bei Vögeln festgestellt. Vier Menschen, die sich möglicherweise angesteckt haben, wurden in eine Klinik eingeliefert. Damit ist die Zahl der Patienten, die Symptome der Vogelgrippe aufweisen, nach Angaben türkischer Behörden gestern auf insgesamt 70 angestiegen. Bestätigt ist die Infektion mit dem auch für Menschen gefährlichen Erreger H5N1 bei bislang 16 Personen. Dazu gehören auch drei Kinder aus dem Osten der Türkei, die die Erkrankung nicht überlebten.

Der Erreger der Vogelgrippe, an dem in Südostasien bereits etwa 70 Menschen gestorben sind, ist damit inzwischen in vier türkischen Regionen aufgetaucht. Außer an der ägäischen Küste wurde er im Osten der Türkei, im Gebiet um die Hauptstadt Ankara und in Provinzen am Schwarzen Meer nachgewiesen – und er breitet sich offenbar noch schneller aus als befürchtet.

Nachdem die Türkei beim ersten Auftreten des H5N1-Virus in der vergangenen Woche noch für ihr schnelles Handeln gelobt wurde, gibt es jetzt zunehmende Kritik an den Gesundheitsbehörden. Die Bevölkerung sei nur mangelhaft informiert worden, heißt es. Zudem fehle eine Aufklärung auch in kurdischer Sprache. Die Menschen auf dem Land, die vielfach eng mit Hühnern und anderem Geflügel zusammenleben, hätten deshalb keine Vorsichtsmaßnahmen ergriffen.

Die in der Türkei registrierten Vogelgrippeausbrüche seien „so massiv und so weit verbreitet, dass das Virus schon lange im Land sein muss“, sagte Reinhard Kurth, der Präsident des Robert-Koch-Instituts in Berlin. „Wahrscheinlich seit Wochen oder gar Monaten.“

Ähnliches vermuten auch Wissenschaftler des Karolinska-Instituts in Schweden. In einer Studie kommt ein Team unter der Leitung von Anna Thorson zu dem Ergebnis, dass die Anzahl der Vogelgrippefälle bei Menschen drastisch unterschätzt wird. Die Forscher hatten fast 46.000 Menschen in Vietnam befragt, wo bisher schon 87 Personen an der Vogelgrippe erkrankt sind. Mehr als 8.000 der Befragten gaben an, sie hätten in letzter Zeit unter grippeähnlichen Krankheitssymptomen gelitten, berichten die Forscher in der Fachzeitschrift Archives of Internal Medicine. Ihre Schlussfolgerung: Das H5N1-Virus springt viel leichter auf Menschen über als bisher angenommen. Bei vielen Infizierten treten nur leichte Symptome auf, so dass die Erkrankung unerkannt bleibt. Die Karolinska-Experten schätzen, dass sich zwischen 650 und 750 der Befragten mit Krankheitssymptomen mit H5N1 angesteckt hatten. Sie räumen jedoch ein, dass diese Schlussfolgerung nicht auf medizinischen Untersuchungen basiert. Um haltbare Aussagen über das wahre Infektionspotenzial des H5N1-Virus machen zu können, müsse eine große Anzahl von Menschen in einer von der Vogelgrippe betroffenen Region auf das Virus getestet werden. Eine solche Studie gibt es bislang weder von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch von anderen Experten.

In der Türkei könnte das gestern begonnene muslimische Opferfest Eid al-Adh die Ausbreitung des Virus noch beschleunigen. Wer es sich leisten kann, schlachtet zu diesem Fest ein Schaf oder ein anderes Tier. Mit dem Transport der Opfertiere könnte das H5N1-Virus in weitere türkische Provinzen eingeschleppt werden – zum Beispiel über mit Hühnerkot verschmutzte Felle oder Klauen. Das Virus kann bei Temperaturen unter 4 Grad Celsius bis zu 35 Tage in Vogelkot überleben. WOLFGANG LÖHR