Deutschland, einig Wohlfühl-Land

Heilserwartung schwingt mit in den Kampagnen um „Du bist Deutschland“ und das größte WM-Nationalteam aller Zeiten. Vereinigungsrhetorik soll wärmende Gemeinschaftsgefühle erzeugen. Zeit, an eine alte Unterscheidung zu erinnern

An Versuchen, der Bundesrepublik zu entkommen, hat esniemals gemangeltDas Teamdenken soll wärmen – in einer als kalt gezeichneten Welt der Globalisierung

von DIRK KNIPPHALS

Zu den vielen Seltsamkeiten, die es mit sich brachte, in diesem Land zu leben, gehörte lange Zeit eine Unterscheidung, die – obwohl man im Alltag gar nicht groß darüber nachdachte – peinlich genau eingehalten wurde: die Unterscheidung zwischen dem Wort Bundesrepublik (oder gleich dem Wort BRD) und dem Wort Deutschland. Diese Differenzierung funktioniert nicht mehr – was an der Wiedervereinigung liegt, aber nicht nur an ihr. Die „Du bist Deutschland“-Kampagne und die Fußball-WM lassen sie derzeit endgültig kollabieren – eine Verschiebung, die im Bewusstsein mehr arbeitet, als es die glatten Ästhetiken der Deutschland- und Nationalteam-Kampagnen nahe legen. Mentalitäten haben lange Laufzeiten. Zeit, sich Rechenschaft darüber abzulegen.

Bundesrepublik, das war zunächst einmal die Bezeichnungen für das Land, in dem man lebte. Ein Provisorium, dessen Grenzen umstritten waren. Aber Bundesrepublik war auch mehr als das. Das Wort bezeichnete ein abgekühltes, unheroisches Staatsverständnis. Bundesrepublik war: Ich liebe meine Frau, nicht dieses Land. Das war: Olympische Spiele 72, mehr Demokratie wagen und Abschied von den Kriegsteilnehmern. Das war: Sendung mit der Maus, Brauner Bär und der schlaue Fuchs der Wüstenrot-Tage. Die Bundesrepublik, das war etwas, was man gut aushalten konnte, zumal ihr leicht zu entfliehen war, nach Europa, nach Amerika. Die Bundesrepublik war ein Land, das keine Krallen hatte.

Deutschland war etwas anderes. Das hatte Krallen. Im Ausland bezeichneter man sich zwar notgedrungen als Deutscher, aber oft mit distanzierender Geste und einem Unwohlsein. Zu Hause sagte man höchstens beim Fußball Deutschland, wenn man die Bundesrepublik meinte – und selbst beim Fußball bettete man dieses Wort in vorsichtige Witzeleien ein. Es ging dabei schlicht darum, Missverständnisse zu vermeiden. Bundesrepublik, das war das Eigene, Zivilisierte, zumindest Zivilisierbare. Deutschland war das Fremde, Unheimliche, auch Barbarische an dem Land, in dem man lebte.

Insofern war die Unterscheidung zwischen Bundesrepublik und Deutschland – über die konkrete politische Bezeichnung hinaus – ein alltäglicher Akt der gesellschaftlichen Neujustierung. Wer von der gegenwärtigen Realität sprechen wollte, sagte Bundesrepublik und betrieb dabei ein Projekt: das, Deutschland zu entkommen. Deutschland sagte man entweder abwertend oder wenn es um Schuldfragen ging oder um die Frage, ob der Schoß fruchtbar noch ist.

Manchmal ragte aber auch etwas von Deutschland her in die bundesrepublikanische Wirklichkeit hinein, jenseits konservativer oder revanchistischer Figuren. Das waren zum Beispiel die Theaterstücke Heiner Müllers, dunkle, pathetische Ruinentexte. Neulich, beim zehnten Todestag dieses Dramatikers, konnte man gut sehen, wie weit weg diese Texte inzwischen sind. Die Einstürzenden Neubauten hatten auch so etwas. Es gab die Figur Hans Jürgen Syberbergs, die ragte auch. Für Germanistikstudenten gab es Hölderlin-Exerzitien. Und für alle gab es den Deutschen Herbst – bundesrepublikanischer Herbst hätte er nie und nimmer heißen können, er brauchte unbedingt das Deutsche im Namen, als Pathoszeichen rund um Untergang und Verhängnis.

Das Deutsche war also durchaus da, aber es war kanalisiert im Kulturbereich und höchstens noch in Volksmusikabenden. Auch an Versuchen, der Bundesrepublik in Richtung Deutschland zu entkommen, hat es nicht gefehlt. Spätestens seit den Achtzigern fing das an, mit Tabubrechergeste und argwöhnisch beäugt. Die Entwicklung im Werk des Dramatikers Botho Strauß lässt sich in etwa als ein solcher Versuch lesen – vom bundesrepublikanischen Stückeschreiber mit seinen post-, prä- oder mittendrin-therapeutischen Szenarien in WG-Küchen und Galerien hin zu deutschen Donnerworten, Dichterwortgrübeleien und Bocksgesängen. Funktioniert haben diese Versuche eher nicht. Noch die Bocksgesangsdebatte war die Formulierung eines einzigen großen Willens – bei der Bundesrepublik zu bleiben, auch und trotz der Wiedervereinigung, die ihr besondere Dringlichkeit gab.

Gegen solche Ansätze, schwarze Kulturkritik wiederzubeleben oder allerlei Ernstfälle auszurufen – Geburtenrückgang!, Staatsverschuldung!, Fitmachen für die Globalisierung! –, erweist sich etwas schon oft Totgesagtes als erstaunlich resistent: die bundesrepublikanische Ironie. Zur Generierung von Bestsellern reichen solche Diskurse zwar mittlerweile. Aber sie werden zugleich auch mit einem schwitzigen Anstrich versehen. Was die Unterscheidung zwischen Bundesrepublik und Deutschland dagegen tatsächlich verblassen lässt, kommt aus einer anderen Richtung. Deutschland scheint seine Schwere einzubüßen – übrigens ganz im Gegensatz zu den Themen, die noch im Umfeld des Films „Der Untergang“ mühevoll herbeifantasiert wurden: Trauma und Schicksalsgemeinschaft. Gegenwärtig jedenfalls verliert das Wort Bundesrepublik seine Selbständigkeit, und das Wort Deutschland wird in Richtung Pop und Feel Good verschoben.

Gut möglich, dass spätere Mentalitätshistoriker die Fernsehbilder, die die Oderfluten 2002 lieferten, als Manifestwerden dieser Popwerdung Deutschlands ausmachen werden. Soldaten und Landbevölkerung, die gemeinsam Sandsäcke schleppen, um der Natur zu trotzen: Das ist die Urszene, die die aktuellen Werbekampagnen ausdifferenzieren.

So kommt es, dass während dieser seltsamen „Du bist Deutschland“-Kampagne in diesem Land zu leben bedeutet: aufmunternd blickenden Promis in Fernsehspots zuzusehen und Gemeinschaftskitsch zu ertragen. Wo einem neulich noch Schwerkunst und sonstiges Schwergewichtiges einfiel, kommt einem das Thema heute leicht, luftig und hell entgegen. Pathos gibt es auch, aber ein Pathos der guten Hoffnung. An die Stelle der schwärenden Ruinen ist das Lächeln von Zuversicht ausstrahlenden Menschen getreten. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren: Deutschland ist unter die Animateure gefallen.

Dann die Fußball-WM. Spätestens hier ist gleich wieder von Überdosierungen der aufgefrischten Deutschlandbilder zu berichten. Deutschland, so viel ist sicher, wird einem in den kommenden Monaten gehörig auf die Nerven gehen. Dafür sorgen doch jetzt schon all die vorausgeschickten emotionalen Umgarnungsmaßnahmen. Auf allen Kanälen Signale, die über ein Sportereignis hinaus in Richtung Deutschland senden.

Auch hier geht es um Gemeinschaftsstiftendes. „Teamgeist“ heißt der offizielle WM-Ball. An den Flanken des neuen DFB-Trikots züngeln schwarz-rot-gold die Flammen der Begeisterung. Und die Telekom fantasiert in ihren Werbespots vom „größten Nationalteam aller Zeiten“. Die deutsche Nationalmannschaft ist in ihnen nur die Spitze einer geschlossen zum Mitfiebern und Mitjubeln angetretenen Gesellschaft. Mit der Nüchternheit der Bundesrepublik hat das nichts mehr zu tun. Die WM der Bundesrepublik war 74. Dies wird die WM Deutschlands werden.

Überrascht sein muss man ja nicht. Aber diese Obertöne, dies über den Sport Hinausschießende, das verblüfft in seiner Vehemenz dann doch. Zugleich liegt darin das Nervende. Es schwingt etwas von Heilserwartung mit in diesen PR-Maßnahmen.

Auf der Klaviatur, dass die Fußball-WM zur Lösung unserer Wirtschaftsprobleme beitragen soll, hat schon die Kanzlerin in ihrer Neujahrsansprache gespielt. Wer sich darüber hinaus dem Telekom-Werbematerial aussetzt, gewinnt zudem den Eindruck, dass es gleich darum gehen soll, die negativen Folgen von Vereinzelung und Individualisierung im Ganzen abzufangen. Offensichtlich herrscht hier das Kalkül, mittels Vereinigungsrhetorik und Teamdenken wärmende Gefühle erzeugen zu können, in einer als kalt gezeichneten Welt von Globalisierung und Heuschrecken und einer ansonsten pragmatisch vorgetragenen Politik. Mit Hilfe der Symboliken von Flagge und Nationaltrikots wird dies Wärmende auf Deutschland projiziert. Nur die Nationalhymne fand wohl man zu heavy. Sie ist durch ein an angebritpoptes Liedchen ersetzt.

Menschen, die die Individualisierung für eine gute Sache halten, müssen derzeit ganz tapfer sein. Überhaupt lassen sich die Deutschland-Kampagnen insgesamt gut als Test dafür sehen, wie viel Gemeinschaftsrhetorik man ertragen kann, ohne nicht doch irgendwann in alte Deutschlandbilder zurückzufallen. Bei mir war Schluss, als ich Teamchef Jürgen Klinsmann im Kinowerbespot markig sagen hörte: „Hier gibt es kein Ich. Hier gibt es nur Wir.“ Der Spruch mag sich auf die Entwicklung im modernen Fußball mit seinen Netzwerkgedanken beziehen. Aber er ist so unbedarft, als hätten die Deutschen nie schlechte Erfahrungen mit zu ichfern gedachten Gemeinschaften gemacht. Zum Glück gibt es im Fernsehen auch die Schnäppchenjäger-Spots für Elektronikmärkte. Sie machen sehr deutlich, dass sich in dieser Gesellschaft niemand mehr über den Tisch ziehen lassen möchte. Sonst könnte man denken, die Deutschen seien wirklich eine verschworene Gemeinschaft.

In der alten, peinlich genauen Unterscheidung von Bundesrepublik und Deutschland war etwas Praktisches eingebaut: eine immer schon existierende Unterscheidung zwischen Staat und Gesellschaft. Und etwas, was man als ein Danebenstehen bei Gemeinschaftsdenken bezeichnen könnte. Das helle, neue Deutschland gibt manchmal Anlass, an diese Unterscheidungen zu erinnern. Während Distanz zu sich selbst früher in diesem Land von sich aus da war, muss sie heute offensichtlich hin und wieder bewusst hergestellt werden.