Nutze dein Geld!

Grüne Denkfabrik präsentiert radikales Sozialmodell – die Teilhabegesellschaft. 60.000 Euro Startkapital für Volljährige

VON CHRISTIAN FÜLLER

Gerade hat man sie noch für tot erklärt, aber huch, da sind sie schon wieder. Die Grünen, genauer ihre Denkfabrik Heinrich-Böll-Stiftung, haben ein Sozialstaatsmodell in die Diskussion gebracht, das alle Gewissheiten über den Haufen wirft. Es verwandelt den guten, alten Sozialstaat in eine neue, aktivierende Variante von „Nutze deine Chance“. Der Clou dieser so genannten Teilhabegesellschaft: Jeder 18-Jährige bekommt ein Konto von 60.000 Euro. Verjubeln darf er das Geld allerdings nicht – er soll es in seine Karriere, am besten in seine Ausbildung, stecken.

Der neue Sozialstaat namens Teilhabegesellschaft vereint neue kapitalistische und bewährte fürsorgliche Elemente. Jeder 18-Jährige mit deutscher Staatsbürgerschaft erhält 60.000 Euro als erweiterten Bildungsgutschein. Auch Migranten haben Anspruch auf das Geld – sofern sie einen Pass haben und mindestens 8 Jahre hier die Schule besucht haben. Vollen und sofortigen Zugriff auf das Geld bekommen allerdings nur die, die es in höhere Bildung stecken. Andernfalls darf man bis zum 21. Lebensjahr nur von den Zinsen leben – rund 200 Euro monatlich.

Entworfen haben drei grünennahe Wissenschaftler das Modell für die Heinrich-Böll-Stiftung. Claus Offe, unter Linken ein altbekannter Soziologe und heutiger Professor an der privaten Hertie School of Governance in Berlin (das „Harvard an der Spree“ der deutschen Industrie), hat mit Gerd Grözinger (Flensburg) und Michael Maschke (Humboldt-Uni Berlin) den länger umherschwirrenden Terminus der Teilhabegesellschaft ernst genommen. Mit Teilhabe meinten die Erfinder der stakeholder society, die Yale-Professoren Bruce Ackermann und Anne Alstott, nämlich nicht abstrakte Bürgerrechte. Sie nannten einen konkreten Betrag – um Bürgerrechte finanzierbar zu machen.

Die Teilhabegesellschaft ist nicht billig. 55 Milliarden Euro Kosten entstehen – und das jährlich. Finanziert werden soll die Riesensumme zum einen aus Teilen des alten Sozialstaats. Und aus einer neuen Vermögensteuer. 1,5 Prozent würden dabei fällig werden, durch entsprechende Freibeträge wäre nur das obere Viertel der Vermögenden betroffen. Sie bringen knapp 30 Milliarden Euro ein. Allerdings: Offe und seine Kollegen ziehen auch Leistungen des alten Sozialstaats heran, Bafög etwa, das Wohngeld, Teile der Sozialhilfe. Hier sollen rund 20 Milliarden Euro für den Kraftakt erwirtschaftet werden.

Die ersten Reaktionen sind gemischt. Arbeitslose Akademiker reagierten verbittert, als die Böll-Stiftung die Teilhabegesellschaft in Berlin zur Diskussion stellte – weil sich stakeholder so verdächtig nach shareholder, nach Aktionär, anhöre.

Die verbliebenen Linken bei den Grünen wittern Verrat, weil Alte und Arbeitslose zugunsten junger Karriereplaner mit 60.000-Euro-Konto aus dem Blick geraten. Und auch Realos wie die Exfraktionschefin im Bundestag, Krista Sager, sind nicht zufrieden – wegen der Gerechtigkeitslücke. Das Modell orientiere sich zu sehr am amerikanischen Mittelstand und lasse die eigentliche Problemgruppe des deutschen Bildungssystems außer Acht: die über 20 Prozent Risikoschüler der deutschen Schule, die eine Studienberechtigung wegen Leseschwächen gar nicht erreichen können.

Immerhin freute sich der Bremer Politikwissenschaftler Stephan Leibfried, dass endlich wieder an eine historische Umverteilung gedacht werde. Leibfried gilt als der Großmeister unter den Sozialstaatsforschern (siehe Interview).

Der Böll’sche Chancen-Sozialstaat ist der radikalste Vorschlag in der seit Jahren geführten Debatte um die – je nach Geschmack – Rettung, Erneuerung oder Zerschlagung des alten Sozialstaats à la Bismarck. Der steht dafür ein, wenn Lebensrisiken wie Alter, Arbeitslosigkeit oder Krankheit eintreten – nachträglich. Die Teilhabegesellschaft setzt vorsorglich an, bei den Jungen. Sie versucht, ihnen die Verwirklichung von Lebenschancen schmackhaft zu machen. Das Radikale ist nun, dass dies durch Zuweisung einer Art Lebensaktie, eines Teilhabescheins mit einem echten materiellen Wert von 60.000 Euro, geschieht.

„Der brave Beitragszahler bekommt nach 40 Jahren eine den Lebensabend sichernde Rente“, beschreibt Claus Offe ein wenig spöttisch die Norbert-Blüm’sche Spielart des Sozialstaats. Der den Nachteil habe, dass von einer standessichernden Rente spätestens in 10 bis 20 Jahren nicht mehr die Rede sein könne. Seine neue Version von Wohlfahrtsstatt funktioniere anders, erläuterte Offe. „Jeder bekommt das Recht auf ein freiheitssicherndes Startkapital“ – das er in die Verwirklichung seiner Chancen investieren soll. Offes Koautor, Gerd Grözinger, machte es noch drastischer: Das neue Modell werde wie ein Lernturbo wirken. „Es wird eine Bildungswelle über jenen frei, die bisher resignierten.“ Nach den Vorstellungen der Autoren sind das jene aus dem bildungsfernen Publikum und Kinder sozial Benachteiligter.

Das ist nicht nur eine Idee der Autoren, sondern ein Stück Realität. Großbritannien hat begonnen, in so genannten Child Trust Funds für jedes Neugeborene zwischen 250 und 500 Pfund anzusparen, auf die die Zöglinge erst mit 18 Jahren Zugriff bekommen. Bis dahin können ihre Eltern realisieren, was grüne Abgeordnete vermissen: Druck machen, damit der Staat ein besseres Bildungsangebot für Klein- und Schulkinder bereitstellt.