„Einen solchen Kraftakt brauchen wir“

Der Politologe Stephan Leibfried begrüßt, dass das Modell Bildung in den Fokus nimmt. 30 Milliarden seien nicht zu viel

taz: Irren die Autoren des neuen Sozialmodells, wenn sie jedem Jugendlichen 60.000 Euro versprechen? Oder hat die Idee der Teilhabegesellschaft einen gewissen Esprit?

Stephan Leibfried: Sie hat jedenfalls einen diagnostischen Wert. Die letzte große Umverteilung in der Bundesrepublik fand in den 1950er-Jahren statt. Der Lastenausgleich, gleichfalls aus einer Vermögensteuer finanziert, versuchte Wiedergutmachung für verlorenes Eigentum. Eine solche große sozialstaatliche Anstrengung haben wir seitdem nicht mehr unternommen. Die Wiedervereinigung etwa haben wir aus der „Portokasse“ erledigen wollen. Verglichen mit den 50er-Jahren, sind wir eine umverteilungsunfähige Gesellschaft geworden.

Wie stehen Sie zu der neuen Philosophie, die in der Teilhabegesellschaft steckt?

An dem Modell ist interessant, dass die Betonung nicht auf Geld, sondern auf die Bildung gelegt wird. Jeder junge Staatsbürger soll sich darum einen Kopf machen – dann hat er direkten Zugriff auf sein Kapital von 60.000 Euro. Es kommt also ein Element herein, das nicht einfach rentenähnlich ist. Das macht die Sache spannend, denn da liegt der Hase im Pfeffer: Das jetzige Bildungssystem verteilt Chancen viel zu unzureichend und ungerecht. Ob die Idee technisch realisierbar ist, ist eine andere Frage.

Warum?

Die Autoren wollen die Mehrkosten durch Steuern decken – und indem sie sozialstaatliche Leistungen wie Bafög oder Wohngeld wegfallen lassen. Die Frage ist natürlich, ob man mit seinem neuen nicht zu viel vom alten Sozialstaat abrasiert. Konkret: Wenn man es umrechnet, kann man mit 60.000 Euro vielleicht 8 Jahre auf Sozialhilfeniveau leben. Aber was kommt dann? Diese Teilhabegesellschaft scheint eine Art Lebensabschnittssozialismus zu sein. Mit 18 bis 26 Jahren hat man alle Chancen. Aber danach?

Welchen Typ des Sozialstaats entwirft das Modell?

Es ist einerseits ein amerikanischer Typus, weil Bildung betont wird. Die Bildungspolitik hat sich dort seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor der Sozialpolitik entwickelt. Mit Colleges und Highschools setzten die US-Amerikaner ganz auf Bildung, lange ehe die Rente kam. Andererseits ist es ein universales Modell, wie wir es aus dem alten Schweden kennen. Das wird voll aus Steuern bezahlt. Jeder erhält eine Rente, egal wie seine Vorgeschichte ist.

Welche Realisierungschancen hat die Idee?

Das Modell spricht etwas an, was notwendig ist – eine große Bildungsanstrengung.

Mit Beträgen von 30 Milliarden Euro?

Ja, einen solchen Kraftakt brauchen wir. Im Vergleich zu den Wissensinvestitionen in Japan oder den USA liegen wir mit 1 oder 1,5 Prozent des Bruttosozialprodukts hintendran. Anders gesprochen: Wir haben viel zu wenig Anteile eines Jahrgangs in den Universitäten. Und die Unis könnten qualitativ auch erheblich besser sein.

Ich weiß nur nicht, ob man das Bildungssystem über Bildungsgutscheine von 60.000 Euro sanieren kann. Beim Zugang zur Bildung bis zu 10 Jahren ändert das Teilhabemodell erst mal nichts. Da müsste ein ganz anderes Angebot geschaffen werden. Immerhin, ich glaube, die Autoren haben die Nase im Wind: Das Problem ist das ganze Bildungs- und Wissenschaftssystem.

INTERVIEW: CHRISTIAN FÜLLER