„Ich schreibe im Auto“

David Sylvian war der Kopf der britischen Glamrock- und Synthiepop-Band Japan. Nach einigen Soloalben wurde es in den Neunzigern ruhig um ihn. Seine neue Band Nine Horses organisiert sich über das Internet. Ein Gespräch über den Segen moderner Technologie

INTERVIEW MAX DAX

taz: Mr. Sylvian, Sie waren als Sänger Ihrer Band Japan eine der Ikonen der Achtziger. In den Neunzigern hörte man fast gar nichts von Ihnen. Man beachtet Sie wieder, seit Sie mit dem deutschen Elektronikfrickler Burnt Friedmann zusammengekommen sind.

David Sylvian: Am Ende ist alles ganz einfach: Ich mache jetzt seit Ewigkeiten Musik. Man muss sich selbst immer wieder aufs Neue Hürden stellen, die eigene Faszination am Lodern halten. Ich möchte nicht morgens aufwachen und keine Lust haben, das Studio zu betreten. Das hat gar nichts mit Melodien oder Songtexten zu tun, sondern mit dem Prozess des Musikmachens selbst. Es geht darum, Prozesse zu verändern, damit die Selbstsicherheit der Methode permanent in Frage gestellt wird. Es gibt nichts Schlimmeres als Methoden, die zur Gewohnheit werden. Und auf Burnt Friedmann bin ich gestoßen, weil er seine CDs so eigenwillig verpackt: Man muss einen Aufkleber und somit das Cover zerstören, um an die Platte heranzukommen. Sehr abgefahren.

Cover zerstört, Musik gehört. Sie trafen den Deutschen, gemeinsam haben Sie mit der neuen Band Nine Horses und dem Album so etwas wie Ihren zweiten Frühling eingeläutet.

Warum auch nicht? Ich war auf Anhieb gefangen von Friedmanns verschobenen Rhythmen. Warum? Ich hätte nicht sagen können, ob seine Musik programmiert war oder von echten Musikern eingespielt. Das imponiert mir.

Sie leben in Boston, Friedmann in Köln. Wie kommt man da zusammen?

Bernd schickte mir Tracks über das Internet. Ich steuerte Elemente hinzu. Letztlich musste ich feststellen, dass es nur eine andere Art ist zusammenzuarbeiten. Kollaborationen über das Internet sind nicht weniger faszinierend, nicht weniger vielversprechend und mitnichten weniger hingebungsvoll. Wenn man die Musiker, mit denen man zusammenzuarbeiten beabsichtigt, sehr sorgfältig aussucht, kann man in der Regel sofort sagen, ob die Chemie stimmt oder nicht. Was ich an der distanzierten Arbeitsweise, die das Internet mit sich bringt, so mag, ist der Umstand, dass ich mir die im Entstehen begriffene Musik gewissermaßen in meine Wohnung runterladen kann. Ich kann sie mir in meiner vertrauten Atmosphäre anhören. Und da ist es mir freigestellt, ob ich mich daraufhin nur ein paar Stunden dieser Musik widme – oder gleich ein paar Wochen. In der eigenen Wohnung gibt es keine Grenzen und keine Zeitlimits. Meiner Meinung nach bekommt man von Menschen, die ebenfalls so arbeiten, in der Regel sehr, sehr hingebungsvolle Spuren.

Früher, meinen Sie, wäre das so nicht gegangen?

Richtig. Gerade letzte Woche habe ich Saxofonimprovisationen zu einem Stück bekommen, an dem ich arbeite. Stunden von Saxofon – zu einem Song. Über das Internet. Es ist ein Reichtum, aus dem wir schöpfen können – natürlich nur, wenn wir selber ebenfalls großzügig zu anderen sind. Musik entwickelt sich zu so etwas wie einer Parallelwährung. Mit dem Wegfall der klassischen Rolle, die die Plattenfirmen eingenommen hatten – es gibt keine „Bank“ mehr, die uns Musikern Geld gibt – haben wir oft nichts anderes als Musik, das wir uns gegenseitig anbieten können. Viele von uns geben die besten Performances – und vertrauen darauf, dass ihre Musik zu einem Erfolg beiträgt, an dem sie dann partizipieren. Die Rolle der Labels, die früher sehr darauf geachtet haben, wie sich ein Künstler positioniert, ist mit dem Wegfall der Zahlungen geschrumpft. Labels haben dieser Open Community, die von Australien über Philadelphia bis Norwegen miteinander vernetzt ist, nichts mehr entgegenzusetzen. Jeder Musiker kann sich mühelos in diesen Austausch von Takten, Melodien und Soli einklinken. Das ist ein Jahrhunderte alter Traum von Generationen von Musikern. Diese Freiheit ist die eigentliche Schönheit des Internet-Zeitalters.

So, wie Sie über die Entstehung von Musik reden, erinnert das an Beschreibungen von situativer Jazzmusik. Kommt daher jene sublime Jazzstimmung auf „Snow Borne Sorrow“?

Ehrlich gesagt haben wir das nicht geplant, es ist so entstanden. Sie müssen sich das so vorstellen: Ich bekomme von Burnt Friedmann Tonspuren, auf denen bestimmte Instrumente bestimmte Melodien spielen und auf diese Weise ein Song bereits eine bestimmte Form angenommen hat. Ich höre an Stellen Instrumente, an denen gar keine zu hören sind. Vielleicht gibt es noch nicht einmal die Freifläche, die muss erst frei arrangiert werden. Es ist vergleichbar mit dem Verspüren eines Phantomschmerzes: Sie hören einen unfertigen Song, und Sie hören unmittelbar das Fehlende, die Leerstelle. So ging mir das oft mit Bernd, und so ging mir das mit der schwedischen Sängerin Stina Nordenstam. Deshalb sage ich auch: Wir sprechen die selbe Sprache. Tut man dies nicht, ist man verloren. Deshalb muss man eine Zusammenarbeit ja auch so behutsam beginnen. Ich bin ein gebranntes Kind. Ich weiß, wovon ich rede.

Warum sind Sie eigentlich von England nach Amerika gezogen?

Das war keine wirklich bewusste Entscheidung. Ich bin eigentlich nur für kurze Zeit nach New York gezogen, um mit Ryuichi Sakamoto eine Platte fertig zu stellen. Dort lernte ich meine zukünftige Frau kennen. Sie nahm mich mit auf eine Reise durch die Vereinigten Staaten, richtig durch den mittleren Westen. Unsere Reise endete in ihrem Haus in Minneapolis. Ich als Weltreisender war also in Minnesota gelandet.

Da hielt es Sie aber nicht lange.

Ich wäre mit meiner Frau überall hingegangen, nach London, Irland, Italien. Aber wir endeten in Boston. Dort wurde mir dann endgültig klar: Ich lebe jetzt in Amerika.

Was fiel Ihnen dabei schwer? Die Sprache ja wohl nicht.

Die USA haben eine sehr materialistische Kultur. Das Streben der Amerikaner ist auf die Anhäufung von Vermögen angelegt. Der Dollar ist der Maßstab für alles, was ein Amerikaner tut. Egal, ob Sie das Radio oder den Fernseher anschalten: Alles wird in Dollars gemessen. Als Saddam Hussein gefangen genommen wurde, lautete die alles entscheidende Frage: Und wie wird sich dieser Schlag auf den Dollarkurs auswirken? Ich empfinde dieses Kulturverständnis als hochgradig korrupt. Also wurde ich immer selektiver. Ich guckte nicht mehr fern, ich entzog mich bewusst der Massenkultur.

Da müssen die neuen Kommunikationstechnologien für Sie ja ein Segen gewesen sein.

So ist es! Zur gleichen Zeit durchleben die Amerikaner ja eine kulturelle Revolution, die darauf basiert, dass sich jedes Individuum seine eigene Kultur wie ein Satellitensystem um sich selbst herum zentriert. Für mich ist das ein echter Segen! Bedenken Sie: Ich lebe jetzt bereits bestimmt fünf Jahre abseits des Trubels. Für mich ist es ein Segen, mir mein eigenes Umfeld schaffen zu können. Statt vom Treiben auf der Straße bin ich vom Treiben auf der Welt beeinflusst.

Inwiefern haben Sie die Chance genutzt und sich selbst in Boston neu erfunden? Welche Details Ihrer Biografie haben Sie dort geschärft?

Ich möchte Ihnen widersprechen: Der Charakter, Ihre Psychologie ändert sich nicht, selbst wenn sie sonst wohin fahren. Ob Ihnen das gefällt oder nicht. Sie bleiben Sie selbst. Aber es war wie ein befreites Aufatmen, als ich London endlich hinter mir gelassen hatte. Die Menschen in Europa sind sehr sesshaft und ängstlich gegenüber Veränderungen. Selbst wenn einem Menschen in Europa sein Wohnort, sein Beruf und sein Leben nicht gefällt, so zieht man dort nur selten den Schluss etwas zu verändern. Man sieht immer nur den Verlust: Man könnte das Gute im Schlechten verlieren, das Richtige im Falschen. Deshalb bleiben die Menschen in ihrem Haus oder ihrer Wohnung wohnen. In Europa. Statt zum Meer zu ziehen – oder in eine andere Stadt.

Sie haben Ihr Album „Snow Borne Sorrow“ genannt – angeblich, weil Sie einen atmosphärischen aber ansonsten möglichst nichts sagenden Titel suchten. Damit sich keiner der teilgenommen habenden Musiker missinterpretiert fühlte.

Das ist absolut richtig. Einer der Aspekte, die mit dem Austausch von Musikdateien über das Internet zusammenhängt, ist das Fehlen gemeinsamer Abende in der Küche. Man kann gar nicht wirklich herausfinden, ob man jenseits der Musik zusammenpasst oder zusammengehört, ob man eine gemeinsame Philosophie hat. Man kann sie höchstens ahnen. Ich könnte Ihnen beispielsweise nicht sagen, wo Burnt Friedmann steht. Wir haben uns dreimal im Leben gesehen, wir haben nie einfach mal so geredet. Meine Freiheit habe ich mir also gewissermaßen durch Ignoranz erschlichen.

Bernd Friedmann hat aus seinen drei Begegnungen mit Ihnen den Eindruck gewonnen, in Ihren Adern würde blaues Blut fließen. Sie wirkten aristokratisch auf ihn.

(lacht laut) Was hat er noch gesagt?

Dass Sie meistens nur einen Take brauchen, um Ihre Texte einzusingen. Sie gehen ans Mikrofon, und alles sitzt.

Meine Texte entstehen oft sogar in einem Rutsch. Ich schreibe die Texte oft im Zuge des Aufnahmeprozesses. Oder im Auto. Ich schaue auf die vorbeiziehende Landschaft, während ich die noch gesanglose Musik anhöre – und zack! ist wieder ein Songtext fertig.

Wie können Sie sich einen Songtext während einer Autofahrt merken?

Ein guter Text zeichnet sich dadurch aus, dass er folgerichtig ist. Wenn ich die erste Zeile habe, dann habe ich auch bereits die darauf folgende und so weiter. Ich muss dann nur kurz ranfahren und alles niederschreiben.

Wieso singen Sie auf „Snow Borne Sorrow“ eigentlich von realen Vorfällen wie den Terroranschlägen vom 11. September 2001? Sie haben das früher nie gemacht.

Das hat tatsächlich mit meinem Alltagsleben in den USA zu tun. Und auch eigentlich erst, seitdem die Bush-Administration im Amt ist. Seitdem habe ich das Gefühl, dass Musik insofern Menschen verändern kann, als dass sie bewusst Gefühle verändern kann. In diesem Sinne ist jedes Kunstwerk, also auch ein Song, der bewusst versucht, die Wahrnehmung zu verändern, ein politischer Akt. In diesem transformativen Akt liegt Schönheit. Ich glaube daran. Ich glaube auch, dass ein Kunstwerk höherwertig ist, wenn es genau diese Transformation einzuleiten vermag. Und wenn der Zuhörer bewusst offen ist für diese Transformation, dann wird die Sache erst richtig spannend. Für mich ist das die Macht der Kunst – ich glaube fest daran. Kunst vermag zu inspirieren.