Trauriger Spitzenplatz für Berlin

In keinem anderen Bundesland werden so viele Kinder misshandelt wie in Berlin. In den vergangenen Monaten wurden auffallend viele solcher Fälle aufgedeckt. Die Sensibilität der Bevölkerung sei gestiegen, sagt die Polizei

Das neue Jahr war erst wenige Stunden alt, da meldete die Polizei bereits den ersten Fall von Kindesmisshandlung in Berlin: Ein 42-jähriger Mann aus Weißensee soll seine zweimonatige Tochter geschlagen haben. Über Fälle wie diesen wurde in den vergangenen Monaten auffallend häufig in den Medien berichtet.

Die Sensibilität in der Bevölkerung sei größer geworden, ist aus Kreisen der Kriminalpolizei zu hören. Ein Beispiel dafür sei der Fall dreier Geschwister in Lichtenberg, die in einer Wohnung unter katastrophalen hygienischen Zuständen leben mussten. Dank der Aufmerksamkeit einer Anwohnerin konnte die Polizei sie im Dezember befreien. Grund für die gestiegene Aufmerksamkeit sei unter anderem eine Plakatkampagne der Polizei, mit der sie seit 2004 auf das Problem von Kindesmisshandlungen und -vernachlässigungen hinweist. Auf einem der Plakate sind drei Kinder in einer völlig vermüllten Wohnung zu sehen.

Zwar gibt es seit Juli 2000 ein Gesetz zur Ächtung von Gewalt in der Erziehung, das Kindern das Recht auf eine gewaltfreie Erziehung garantieren soll. Aber die Realität sind anders aus: 2004 sind in Berlin laut Landeskriminalamt 398 Fälle von Kindesmisshandlung zur Anzeige gekommen. Vernachlässigung wurde in 255 Fällen angezeigt. Für das vergangene Jahr liegen noch keine Gesamtzahlen vor: Aber bereits bis einschließlich November 2005 war die Zahl der angezeigten Fälle von misshandelten und vernachlässigten Kindern höher als im gesamten Vorjahr. In mehr als 650 Fällen mussten Beamte eingreifen. Und: Die Dunkelziffer ist laut Schätzungen der Polizei noch wesentlich höher. Pro angezeigtem Fall geht man von 20 unentdeckten Taten aus.

Michael Havemann, Leiter des Kripo-Kommissariats für Delikte an Schutzbefohlenen, begrüßt deswegen das Vorhaben der CDU, die ärztlichen Vorsorgeuntersuchungen bei Kleinkindern zur gesetzlichen Pflicht zu machen. „Das ist kein Allheilmittel, aber ein wichtiger Schritt in die richtige Richtung“, sagt er. Momentan sei die Situation so, dass Eltern ihre Kinder bis zum sechsten Lebensjahr wegsperren könnten, ohne dass dies auffallen würde. Pflichtuntersuchungen würden eine „gewisse soziale Kontrolle“ bieten.

Der Kinderschutzbund hingegen kritisiert das Gesetzesvorhaben. „Nach unseren Erfahrungen verstärken Druck und zunehmende Kontrollen die Rückzugstendenzen bei Familien, die Hilfe bräuchten“, sagt Sabine Walther, Geschäftsführerin des Landesverbandes. Die Gründung von „Kinderzentren“ in sozial schwachen Kiezen und die Fortbildung von Ärzten und Lehrern seien effektiver, um Fälle von Vernachlässigung und Misshandlung früher erkennen zu können.

Doch Berlin ist nicht nur an der Spitze der Kindesmisshandlungen, Berlin liegt auch bei Kinderarmut ganz vorne. „Soziale Schwäche ist ein Verstärker“, so Sabine Walther. Eltern, die sich ständig Sorgen ums Überleben machen müssten, hätten einfach weniger Ressourcen für ihre Kinder. Eine Meinung, die Dagmar Riedel-Breidenstein teilen kann. Seit 15 Jahren leitet sie den Verein „Strohhalm“ in Kreuzberg. Er bietet Kindern Sprechstunden an, in denen sie über ihre Sorgen und Nöte reden können. Mitarbeiter von „Strohhalm“ gehen auch in Schulen und erklären den Kindern, dass sie ein gesetzlich verankertes Recht auf eine gewaltfreie Erziehung haben. „Die meisten wissen das überhaupt nicht“, hat Riedel-Breidenstein beobachtet. Sie registriert zudem eine höhere Gewaltbereitschaft bei Eltern. „Das Potenzial ist konstant geblieben. Doch durch die Sozialreformen und die damit verbundenen Sparmaßnahmen kommt die Gewalt häufiger zum Ausbruch.“

Cigdem Akyol