Der Entzug des Herrn Wiechmann

„Wer kommt denn zu mir?“, fragt der gekündigte Drogenreferent Wiechmann. „Leute mit Drogenproblemen!“

AUS JENA BARBARA BOLLWAHN

Tagtäglich hat Ralph Wiechmann mit Drogen zu tun. Mit Cannabis, Heroin, Kokain, LSD, Ecstasy, Amphetaminen. Mit der Betäubung, den Glücksgefühlen, den Enthemmungen, den Bewusstseinsstörungen, der Abhängigkeit. Er ist in der Szene unterwegs, kennt Leute, die Drogen verkaufen, die Drogen nehmen, die drauf sind, die runter wollen. Mit Drogen verdient er sein Geld. Nicht als Dealer. Als Drogenreferent der Stadt Jena, der einzigen Kommune in Thüringen mit einem Referat, das Suchtprävention betreibt, Abhängigen Hilfe anbietet und „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von Christiane F. nicht als Mythos aus dem Westen begreift.

Ausgerechnet Drogen sind dem Drogenbeauftragten jetzt zum Verhängnis geworden. Am 29. November 2005 steht morgens um sechs ein Dutzend Polizeibeamte mit einem Durchsuchungsbefehl der Staatsanwaltschaft Gera, Zweigstelle Jena, und einem Spürhund vor seiner Tür. Zeitgleich wird sein Büro durchsucht, ebenso die Wohnung einer 22-jährigen drogenabhängigen Praktikantin, die er eingestellt hat.

Nach Ansicht der Staatsanwaltschaft soll sie gewerbsmäßig mit Drogen gehandelt und Wiechmann sie dabei unterstützt haben. In seiner Wohnung und in seinem Büro werden etwa zwei Gramm Haschisch, eine Ecstasytablette, etwa 150 Tabletten des rezeptpflichtigen Schlaf- und Beruhigungsmittels Diazepam und einige Tüten mit kristallinen Substanzen gefunden, bei denen der Verdacht besteht, es könnte sich um Crystal handeln, ein Methamphetamin, das starke psychische Abhängigkeit hervorrufen kann.

Die Durchsuchung trifft den Drogenreferenten wie ein kalter Entzug. „Da brach eine Welt zusammen“, sagt der hoch gewachsene schlanke Mann mit den dunklen kurzen Haaren und der schmalen randlosen Brille. Er sitzt im Büro seines Anwalts Hans Peter Richter und versucht zu begreifen, wie er in solch eine Situation kommen konnte. Er ist aufgeregt, verwechselt Suspendierung und Substitution. Mit Substitution hat er ständig zu tun. Mit einer Suspendierung zum ersten Mal.

Am Tag der Wohnungsdurchsuchung wird Ralph Wiechmann vom Dienst suspendiert. Nach einer Anhörung belässt es die Stadt bis zum Ende der Ermittlungen nicht bei der zeitweiligen Beurlaubung, sondern spricht am 14. Dezember 2005 eine außerordentliche fristlose Kündigung aus. In einer „Rathaus-Depesche“ nennt der Jenaer Oberbürgermeister Peter Röhlinger (FDP) die Begründungen: strafbarer Besitz von Drogen und rezeptpflichtigen Arzneimitteln. Die Einstellung einer Praktikantin, „deren Drogensucht und Verstrickung in den Rauschgifthandel“ Wiechmann bekannt gewesen sei. Der Verdacht der Beihilfe zum strafbaren Drogenhandel. Das Betreten der Diensträume trotz Hausverbots. „Vorstehende Gründe haben das Vertrauen der Stadt Jena in die unanfechtbare und loyale Ausführung der Dienstgeschäfte des Drogenbeauftragten durch Herrn Wiechmann unwiederbringlich zerstört. Eine Weiterbeschäftigung ist der Stadt nicht zumutbar.“

Wiechmann liefert aus seiner Sicht plausible Erklärungen für die beschlagnahmten Drogen. Die etwa 150 Tabletten Diazepam stammen demnach von einem Jugendlichen, den er beim Entzug betreut hat, bevor er Drogenreferent wurde. Dessen Hausärztin hatte das Antidepressivum für den Heroinentzug verschrieben. „Die Tabletten waren übrig geblieben“, sagt er. Weil er nicht wusste, ob der Jugendliche sie nicht noch brauchte, bewahrte er sie, verschlossen in einer Stahlkassette, auf und vergaß sie dann. Die kristallinen Substanzen waren „ein paar Krümel von Altbeständen“, die Wiechmann zur Untersuchung in ein Labor geschickt hatte. Die zwei Gramm Haschisch und die Ecstasytablette erhielt er Ende 2004 von der Mutter eines Drogenabhängigen, zusammen mit einer Vielzahl anderer Drogen, die er in einer Apotheke zur Entsorgung abgegeben hatte. Den Rest deponierte er in seinem Drogentestkoffer.

Obwohl der Diplompädagoge und Suchttherapeut erst 41 ist, klingen die dreizehn Jahre, in denen er in Erfurt und Jena Strukturen für die Suchthilfe und Prävention aufgebaut hat, die im Westen längst üblich sind, nach einem Lebenswerk: „ins Milieu gehen“, die Nähe derer suchen, die nicht in die Beratung kommen, die vom Drogenhandel leben, Kontaktcafés, „Cleancamps“ in Rumänien, Notschlafstellen, medizinische Grundversorgung, Substitutionsambulanzen, die Entwicklung eines verlässlichen Drogenscreenings, Gesprächskreise für Angehörige, sozialpädagogische Einzelfallbetreuung.

Aufgrund seiner Erfahrung erhält er im Oktober 2003, als die Stadt Jena ein Drogenreferat einrichtet, die Stelle des Leiters. Er genießt Vertrauen in der Szene, bei Aussteigewilligen und bei Angehörigen. Wer mit ihm zu tun hat, kann davon ausgehen, dass es ihm ausschließlich um Prävention geht, dass er von seinem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch macht. „Drogendealer wissen, sie sind zwei Wochen nach einem Gespräch mit mir nicht vom Fenster weg“, sagt Wiechmann. „Das fällt mir jetzt auf die Füße.“ Er klingt verzweifelt. „Und jetzt wird von mir das Bild eines Kriminellen gezeichnet.“ Er schüttelt verständnislos den Kopf und blickt hilfesuchend zu seinem Anwalt.

Als er über die drogenabhängige Praktikantin spricht, in deren Wohnung keine Drogen gefunden wurden, die aber wegen Verdunkelungsgefahr in Untersuchungshaft sitzt, fällt es ihm schwer, die Fassung zu behalten. „Wer kommt denn zu mir?“, fragt er in einer Mischung aus Empörung und Ratlosigkeit. „Leute mit Drogenproblemen!“ Die wenigen, die von sich aus aufhören wollen und nicht von den Eltern oder Gerichten „fremdmotiviert“ sind, könne man an einer Hand abzählen. „Wenn jemand aussteigen will, ist das eine Behandlungsmotivation, die man unterstützen soll.“ Deshalb hat er die Praktikantin, die sechs Jahre lang Crystal und Kokain genommen hat und von der Bewährungshilfe zu einem seiner Drogenseminare geschickt wurde, eingestellt. Wiechmann begleitete ihren Entzug, er war sich sicher, sie würde es schaffen. „Wir waren erfolgreich auf dem Weg.“

Dass ihm die Staatsanwaltschaft nun vorwirft, gewerbsmäßigen Drogenhandel zu unterstützen, bringt ihn aus der Fassung. „Das ist eine tiefe emotionale Beleidigung“, sagt er und bricht in Tränen aus. Auf Anraten der Amtsärztin vom Arbeitsamt – wegen der Kündigung bekommt er derzeit weder Geld von der Stadt noch vom Arbeitsamt – sucht er eine Psychologin auf. Es ist die gleiche, zu der er früher seine Klienten geschickt hat. Jetzt braucht er selbst Hilfe. „Ich bin seit sechs Wochen nur am Heulen.“

Warum er ins Visier der Ermittler geraten ist, darüber könnte Wiechmann spekulieren. Doch sein Anwalt rät ihm ab.

Wiechmann war im vergangenen Jahr in einem Prozess gegen einen Mann als Zeuge geladen, dem sexueller Missbrauch und Vergewaltigung vorgeworfen wurde. Wiechmann kannte das Opfer, sie kam aus der Drogenszene. Er hatte ausgesagt, dass ihn jemand im Auftrag des Angeklagten angesprochen hatte mit der Bitte, dem Opfer auszurichten, dass es Geld bekomme, wenn es die Anzeige zurücknehme. Wer das war, hatte er mit Verweis auf sein Zeugnisverweigerungsrecht verschwiegen. Aber seine Aussage hatte dazu geführt, dass der wegen Brandstiftung und Erpressung vorbestrafte Angeklagte erneut in Untersuchungshaft genommen wurde.

„Bezogen auf den bisherigen Ermittlungsstand gibt es keinen Zusammenhang zwischen dieser Zeugenaussage und dem Verfahren gegen Wiechmann“, sagt Anwalt Richter zurückhaltend. „Ob sich in der Zukunft vielleicht einer auftut, ist im Moment reine Spekulation.“ Oberstaatsanwalt Martin Meister erklärt: „Der Verdacht gegen Herrn Wiechmann ist weder kurzfristig entstanden noch ein Racheakt aus Drogenkreisen.“

Die Durchsuchung und fristlose Kündigung des Drogenreferenten stellt die Einrichtungen in Thüringen, die mit der Suchthilfe zu tun haben, vor ein Problem. „Die Bevölkerung ist momentan nicht in der Lage, zu differenzieren“, sagt Astrid Weiß vom Vorstand des Deutschen Roten Kreuzes, dem Träger von „Chamäleon“, einer ambulanten Drogenhilfe. „Es gibt einen großen Vertrauensverlust bei Angehörigen und Betroffenen. Wir müssen die Drogenprävention wieder in ein vernünftiges Licht rücken.“

Weiß betont aber auch: „Mit gutem Gewissen kann ich sagen, dass wir die Arbeit von Herrn Wiechmann immer als sehr fachlich empfunden haben.“ Zum Schluss sagt sie einen Satz, der viele Interpretationen erlaubt. „Es gibt Regeln.“ Was sie damit meint, will sie nicht erklären. Hat Wiechmann seine Kompetenzen, seine Grenzen überschritten? „Es gibt Regeln“, wiederholt sie bestimmt.

Käthe Brunner, die Leiterin des Jugendamtes, kennt Wiechmann seit vielen Jahren. „Er war für uns, für die Jugendlichen, für die Eltern immer ein zuverlässlicher Partner. Er hat größtes Vertrauen in der Stadt genossen. Das macht das Ganze so schlimm.“ Mit „großer Enttäuschung“ hat sie auf die Durchsuchung reagiert. „Ich sehe es als zwingend erforderlich an, dass das Drogenreferat auch zukünftig besteht“, sagt die Amtsleiterin. Harald Weidig, Geschäftsführer der „Suchthilfe in Thüringen“, meint: „Die ganze Geschichte wird sehr hochgekocht.“ Wegen seiner Fürsorgepflicht als ehemaliger Arbeitgeber und der noch nicht abgeschlossenen Ermittlungen der Staatsanwaltsachaft will er sich aber nicht weiter äußern.

Mittwoch nächster Woche ist eine Güteverhandlung beim Arbeitsgericht angesetzt. Wiechmann klagt gegen seine fristlose Kündigung. Eine Einigung ist beim derzeitigen Stand der Dinge mehr als unwahrscheinlich. Wiechmann fühlt sich schon jetzt verurteilt. Am Tag nach seiner Kündigung wurde das Schild „Drogenreferat“ von der Fassade des Gesundheitsamtes entfernt.