Verhalten im veränderten Raum

Denn die Wahrheit entsteht nur jenseits der Gewalt: Michel Serres sucht in seinem „Atlas“ nach Orientierungshilfen, aber auch nach Antworten auf die Fragen, wo wir sind und wie wir an andere Orte gelangen können. Dabei will er stets den gleichberechtigten, Dialog schaffenden Austausch

VON CORD RIECHELMANN

Das französische intellektuelle Denken hat gegenüber dem angelsächsischen und deutschen den Vorteil, dass es sich bis heute auf seinen Ursprung berufen kann, ohne reaktionär zu werden. Als sich um 1200 in Paris ein paar Intellektuelle und ihre Schüler zur ersten universitas zusammenschlossen, einer Genossenschaft von Lehrern und Schülern, mit dem Ziel, gemeinsame Interessen am Studium zu organisieren, taten sie es in dem Bewusstsein, die staatlichen und kirchlichen Autoritäten der mittelalterlichen Welt aus ihrer autonomen Korporation herauszuhalten. Einen Auftrag oder ein Amt hatten sie nicht.

Ihre Verweigerung beziehungsweise ihr Selbstbehauptungswille gegenüber den Ansprüchen der kirchlichen und staatlichen Autoritäten ging so weit, dass die universitas, wenn sie sich unerträglichen geistigen Bevormundungen gegenübersah, einfach die Stadt, in der sie tagte, verließ und sich an anderer Stelle neu organisierte. Die Möglichkeit des Auszugs gehörte zur Universität wie die Aufhebung der strengen ständischen Schranken der Gesellschaft. Der Anteil armer Studenten aus Handwerker- und Kleingewerblerfamilien war hoch. Die universitas war von Beginn an, um es mit einem heute anrüchig klingenden Wort zu sagen, gleichmacherisch und heimatlos, also international. Die Wahrheit gab es in einem emphatischen Sinn nur außerhalb der Macht.

Man kann den kürzlich im Merve-Verlag auf Deutsch erschienenen „Atlas“ des französischen Wissenschaftsphilosophen Michel Serres als Fortsetzung dieser Tradition unter den Bedingungen der so genannten Globalisierung lesen. „Wenn der Besitz eines bestimmten Wissens oder das Zurückhalten einer Information Ihnen eine gewisse Macht verleiht, sollten Sie diesen Anflug von Gewalt rasch auf den Müll werfen, denn Wahrheit entsteht nur jenseits der Gewalt“, fasst Serres seine Aufforderung an den Leser zusammen. Es geht in seinem Atlas also neben den Orientierungshilfen, die Atlanten gewöhnlich geben, um Antworten auf die Fragen, wo wir sind und wie wir an einen anderen Ort gelangen, und auch um die Frage, wie wir uns verhalten sollen.

Der 1930 geborene Serres fuhr als junger Mann jahrelang als Offizier zur See, bevor er 1969 Professor für Wissenschaftsgeschichte an der Sorbonne wurde. Im Unterschied zu anderen Pariser Denkern, die wie Michel Foucault und Gilles Deleuze in den Siebzigerjahren die Pariser Intellektuellenszene bestimmten und nicht nur teilweise ähnliche Themen wie Serres behandelten, sondern auch von seinen Ausgrabungen profitierten, ist Serres aber nie zum Meisterdenker mit weltweiter Breitenwirkung geworden.

Der Merve-Verlag, der Serres fünfbändiges Hermes-Projekt, eine Sammlung von Serres’ Arbeiten aus den Sechziger- und Siebzigerjahren auf Deutsch herausgebracht hat, kann es an den Verkaufszahlen ablesen. Serres, so wird oft behauptet, sei aufgrund seiner Bezugnahme auf so genannte harte Wissenschaften wie Physik, Geografie und Mathematik in Verbindung mit Verweisen auf bildende Kunst und Literatur schwerer zu rezipieren als etwa Foucault und deshalb weniger bekannt. Das mag sein, ist aber nicht alles. Denn während Foucault und Deleuze und auch Baudrillard sich immer wieder in einer Weise auf den Krieg einlassen, die auch affirmativ ist und insofern mit dem Feuer spielt, wie es junge Menschen gern tun, meidet Serres solche Knabenspiele. „Neues entsteht nur im Zustand des Friedens, der einzigen guten Nachricht der Menschheit“, heißt es im „Atlas“.

Austausch, nicht Kampf

Serres sucht nicht Streit oder Kampf, sondern den „gleichberechtigten Austausch“, der erst den Dialog und die Gemeinschaft schafft. Und Gemeinschaft, das sind für Serres die „Massen“, wie er bereits in einem frühen Text zum Parasiten geschrieben hat. Man kann den „Atlas“ als ein spätes Resümee seines Denkweges lesen, sollte aber, wenn man zum Beispiel seine Passagen zum Parasiten kennt, auf eine stilistische Veränderung gefasst sein. Der „Atlas“ ist nicht mehr so prägnant und gedrängt formuliert wie frühere Arbeiten. Manchmal schwelgt er dahin ins All oder in die „neue Welt“, die zwar nicht besser oder schlechter als die alte sein wird, aber in anderen bisher nicht gekannten Räumen spielt. „Ein durch Faulheit geprägtes Verhältnis zur Mathematik führt zu der Ansicht, in der Geometrie sei der Raum stets mit einer Metrik oder gar einem Maß verbunden. Bergson und Heidegger wiederholen diesen Fehler ohne Unterlass und drängen ihre Anhänger, es ihnen gleichzutun, ohne zu erkennen, dass um sie herum die Topologen und wie so oft noch vor den Gelehrten Künstler wie Maupassant die Umgebung und ihre Nachbarschaft längst zu zeichnen verstanden, ohne auf Entfernungen oder Größen zu deren Messung angewiesen zu sein“, schreibt Serres an einer zentralen Stelle des „Atlas“.

Es geht im „Atlas“ um den neuen veränderten Raum und unser Verhalten in ihm. Wie so oft hat Serres damit einen Diskurs eröffnet, zu dem die letzten Worte noch nicht gesprochen sind, was man dem Buch anmerkt. Aber man sieht von ihm aus klarer, wohin es auch gehen kann, und man hat mit dem Buch ein paar Argumente in der Hand gegen das Gefasel von den Eliteuniversitäten, dem so genannten Standortnachteil durch den Verlust so genannter Informationseliten, denn „der einzig erkennbare Fortschritt in der Geschichte der Menschheit liegt immer nur in der kompromisslosen Verteidigung der Schwächeren“.

Michel Serres: „Atlas“. Aus demFranzösischen von Michael Bischoff.Merve Verlag, Berlin 2005, 262 Seiten, 19,80 €