Der Schmerz im Tränenheim

Anja Hilling ist die Nachwuchsautorin des Jahres. Ihr Stück „Monsun“ wurde gerade an den Münchner Kammerspielen uraufgeführt – oder besser: vom Regisseur Roger Vontobel verspielt. Ein bisschen mehr Zuneigung hätte den Figuren schon gut getan. Streng zu ihnen ist die Autorin schließlich selber

Die Arbeit am Stück und die eigene Haltung dazu zu inszenieren – damit gerät Vontobel nun an Grenzen

VON SABINE LEUCHT

Anja Hilling ist gerade dreißig, ihr fünftes Stück „Bulbus“ ist eben fertig, und schon wurde sie mit Shakespeare verglichen und zum „Gottesgeschenk“ geadelt. Das von Haus aus eher nüchterne Fachblatt Theater heute hat den Mund damit recht voll genommen, wo doch die von ihm erkorene Nachwuchsautorin 2005 der Bühne bislang vor allem prosaisch kommt, Monologe sich zart ineinander verbeißen lässt und schön lakonische Regieanweisungen schreibt, randvoll mit Poesie. Hillings „Stücke“ überfordern das Theater systematisch, werfen es auf den Urgrund des Wortes zurück – und kommen in Gestus und Ton doch so leicht daher, dass sie zum Anpacken reizen. Darum werden sie auf die Bühne müssen, vermutlich eine ganze Zeit lang noch.

An den Münchner Kammerspielen, wo man nicht wenig stolz darauf ist, die überschlanke Schöne mit dem schwarzen Kurzhaarschnitt aus dem Berliner HdK-Studiengang für „Szenisches Schreiben“ heraus entdeckt zu haben, wurde nun Hillings drittes Stück „Monsun“ als Werkraum-Inszenierung gegeben. Ein gutes Jahr nach dem böse-komischen „Mein junges, idiotisches Herz“, dem sie ihren Durchbruch verdankt.

Und so sehr sich die beiden Texte auch voneinander unterscheiden, die Fäden zwischen den Personen hat hier wie dort ein schlecht gelaunter Zufall gesponnen, grotesk versponnen sind sie selbst obendrein, und was sich am Ende puzzelteilchengleich zu einem sprachlich gewitzten Typenpanorama fügt, hat schon von Beginn an ein verbindendes Moment besessen: Beim „Jungen, idiotischen Herzen“ war es das Haus, das die unterschiedlichsten Menschen klaustrophobisch umschloss, bei „Monsun“ ist es der Junge Zippo, den (tief Luft holen!) Melanie überfährt, die eben mit Fremdsperma ihre Freundin Coco befruchtet hat, welche mit Zippos Mutter Paula eine Strandhausaffäre erleben wird, während Zippos Vater Bruno mit seiner Assistentin Sybille in Melanies Auto nach Brandenburg fährt und Melanie selbst nach Vietnam geflohen ist, um einen Dokumentarfilm über die kleinwüchsigen Hmongs zu drehen. Stattdessen filmt sie sich selbst in ihrer Hütte, weil draußen der Monsun tobt: unablässig fallender Regen.

Überdies ist Bruno noch Drehbuchschreiber für die TV-Serie „Tränenheim“. Und statt das ebenfalls TV-Serien-taugliche Stück einem Lackmustest zu unterziehen, hat der junge Regisseur Roger Vontobel sich Brunos zynischen Blick auf seine Arbeit zu Eigen gemacht: Weil der sein Geschreibsel Scheiße findet, behandelt auch der Regisseur seinen Stoff, als sollte man besser die Finger von ihm lassen. Bis etwa zur Mitte des Abends gibt er den einmal durcheinander gewirbelten und durch banales Gequatsche erweiterten Text fast ganz in Brunos Hand. Er (Paul Herwig) spricht das Gros der Regieanweisungen, holt ganze Szenen aus seinem Diktiergerät und die anderen zappeln nach Brunos Pfeife. Das Leben, der Schmerz – nur eine Vorabend-Schmonzette?

Die Arbeit am Stück und die eigene Haltung dazu zu insze-nieren, damit war Vontobel bislang so erfolgreich, dass er als Hausregisseur am Schauspielhaus in Hamburg und auch sonst bis auf Weiteres als ausgebucht gilt.

Hillings bewusst oberflächlich gezeichneten Figuren aber täte ein wenig Zuneigung gut. Streng zu ihnen ist die Autorin ja selber: Anja Hilling schaut auf ihr Personal wie Paula auf das letzte, liegen gelassene Brot ihres Sohnes: „Es liegt auf einer Plastikfolie. Sie sieht Kondensbläschen. Sie sieht die Butter, die aus den Löchern im Teig quillt. Sie sieht, dass der Käse sich wellt am Rand.“ Während sie stets das äußerliche Detail anvisiert, bewegt sie aber eigentlich etwas anderes. Dieses Andere – da kann das Programmheft noch so sehr mit Beiträgen über Trauer und Melancholie wedeln, lässt Roger Vontobel kalt. Die Bedeutung, die der tote Achtjährige für die Geschichte hat, wird nur vom Einheits-Bühnenbild hochgehalten: Dort backt Coco im Kinderofen ihre Brote, fahren Bruno und Sybille im Kinderbett Kajak und tischt Bruno seiner Frau in viel zu kleinen Tellern auf. Mit Ausnahme von Caroline Ebner, die neben der Paula auch die hier seltsam unwichtige (aber gewichtig als Bild auf der Rückwand wabernde) Melanie spielt, ist keinem dieser aus ihrer Welt Gerissenen je ein Gefühl erlaubt. Ebner ist das Herz des Abends. Der Rest ist Regie-Anstrengung.