Die Amtsvorsteher

Einen „Mentalitätswechsel“ propagierte Rot-Rot beim Amtsantritt vor vier Jahren. Den gab es nicht nur beim Personal und beim Thema Sparen. Der Berliner Senat hat sich vom Bürgerschreck zum Biedermann gewandelt

Den ersehnten Strukturwandel spürten die wenigsten in der Hauptstadt Ängste und Hoffnungen sind nach vier Jahren sanft entschlafen

VON MATTHIAS LOHRE

Nur ein kleines bisschen war Berlin vor vier Jahren vom Weltuntergang entfernt, da waren kritische BeobachterInnen sicher. Am eindringlichsten formulierte damals Exkultursenator Christoph Stölzl (CDU) das Unbehagen an der rot-roten Koalitionskultur: „Heute sperrt die Sozialdemokratie dem Kommunismus die Tür zur Macht in Deutschland wieder auf.“ Etwas profaner ausgedrückt hieß das: SPD und PDS wählten am 17. Januar 2002 Klaus Wowereit zum Regierenden Bürgermeister. Seither ist der wohlige Schauer einer politischen Götterdämmerung längst verflogen. Und was sich damals nur wenige vorstellen konnten, ist eingetreten: Nach vier Jahren regiert Rot-Rot lautlos – und von der Opposition weitgehend ungestört – die zusammengesparte Hauptstadt. So lautlos, dass man sich geradezu sehnt nach der Dramatik der Anfangszeit.

Die SPD liegt acht Monate vor den Abgeordnetenhauswahlen in Umfragen bei 34 Prozent, die in Linkspartei umbenannte PDS bei 17 Prozent. Die Riege vermeintlicher Revoluzzer hat sich als eine Truppe bieder wirkender Amtsvorsteher entpuppt. Wie es dazu gekommen ist, das ist eine Geschichte mit vielen unvorhergesehenen Wendungen. Sie beginnt mit einer Ironie.

Nach zehn Jahren CDU/SPD-Koalition war im Jahr 2001 eine Mehrheit der BerlinerInnen des zähen Stillstands überdrüssig. Die Milliardengelder des Bundes für die ehemals geteilte Stadt flossen seit Mitte der 90er-Jahre immer spärlicher, der einstigen Wirtschaftsmetropole brach die Industrie weg – doch den ersehnten und dringend nötigen Strukturwandel spürten die wenigsten in der Hauptstadt. Diese Ermüdung trug dazu bei, dass das zunächst vielen BerlinerInnen suspekte Modell „Rot-Rot“ seine steinigen ersten Jahre überstand. Die SPD profitierte also vom selbst erzeugten Überdruss: Sie bekam eine weitere Chance, die Berliner PDS ihre erste seit SED-Zeiten.

Selbst die Skandale der ersten holprigen Jahre erscheinen im Rückblick wie ein Echo der ungeliebten großen Koalition: Die Tempodrom-Affäre wurde von einem Menetekel für den damaligen SPD-Bausenator Peter Strieder nach und nach zu einem Symbol für den Berliner Filz: Die CDU-geführten Senatsverwaltungen genehmigten leichthin eine Millionenbürgschaft, und der rot-grüne Übergangssenat dilettierte später mit teuren, rechtlich heiklen Rettungsversuchen. Ähnlich war es beim weitaus größeren Skandal der Bankgesellschaft Berlin, als Immobilienkredite und dubiose Fonds dem Land Milliardenverluste einbrachten. Was blieb, war das unverständige Achselzucken der meisten Beobachter: Viele schienen schuldig, und damit letztlich niemand.

Im Zuge der Tempodrom-Affäre blieb der einzige SPD-Star neben Klaus Wowereit auf der Strecke: „Supersenator“ und Parteichef Peter Strieder. Neue Stadtentwicklungssenatorin wurde vor eineinhalb Jahren seine Staatssekretärin Ingeborg Junge-Reyer. Die Frau im strengen Hosenanzug ist eine fachlich versierte Verwaltungsexpertin. Leider redet sie auch so. Eine Technokratin, die auch gar nichts anderes sein will. Die 59-Jährige komplettiert eine Riege überwiegend wackerer, aber ausstrahlungsarmer SenatorInnen. Damit verbunden ist eine weitere unvorhergesehene Wendung von Rot-Rot.

Was der Einzug Junge-Reyers für die SPD-SenatorInnenriege war, das hatte die PDS unfreiwillig bereits im Sommer 2002 hinter sich gebracht. Als Gregor Gysi im Sommer 2002 ohne große Not vom Amt des Wirtschaftssenators zurücktrat, da tat auch die PDS ihr Bestes, um den Senat von jedem Schein der Weltläufigkeit zu befreien. Auf den egozentrischen Medienliebling Gysi folgte der PDS-Fraktionschef Harald Wolf, ein großer, stets behäbig auftretender, aber zielstrebiger Strippenzieher. Der Wandel war vollzogen. Nach dem Abgang Gysis und Strieders blieben nur noch die Amtsvorsteher. Wer mag sich vor ihnen fürchten?

Beispielsweise vor der Sozialsenatorin Heidi Knake-Werner. Wer weiß noch, dass die Westdeutsche bis 1990 Mitglied der DKP war? Heute streitet die 62-Jährige nicht mehr für den Kommunismus, sondern müht sich, die vom Bund aufgedrückten Hartz-IV-Reformen im Land maßvoll umzusetzen.

Die Linkspartei ist – je nach Blickwinkel – realistisch oder opportunistisch geworden. Gemeinsam mit der SPD haben die SozialistInnen seit 2002 ein Sparprogramm durchgepaukt, das eine CDU-geführte Regierung vermutlich die Macht gekostet hätte. Im kommenden Jahr will Rot-Rot einen ausgeglichenen Primärhaushalt vorlegen; mit Ausnahme der Zinszahlungen sollen also die Ausgaben die Einnahmen nicht überschreiten. Arm sein ist zwar nicht sexy, auch wenn der Regierende Bürgermeister dies einmal behauptete. Aber den unauffällig arbeitenden Senatsverwaltungen traut eine Mehrheit der Berliner WählerInnen zu, dass ihre Stadt bald weniger arm ist. Das Beamtenimage von Junge-Reyer, Wolf & Co. hat zu diesem Gefühl beigetragen. Doch im Repertoire fehlt noch ein unverzichtbarer Charakter: der Zuchtmeister.

Diese Rolle übernimmt mit Inbrunst Finanzsenator Thilo Sarrazin (SPD) seit vier Jahren. Der einstige Finanzstaatssekretär in Rheinland-Pfalz ist bekannt für seine auf Folien verbreiteten Grafiken, die Berlins Finanzen je nach Bedarf vor dem Abgrund oder auf dem Weg der Besserung zeigen. Und für eine Bärbeißigkeit, die der 60-Jährige mit eitler Freude inszeniert. Sarrazin spricht unangenehme Wahrheiten über den Zustand der Landesfinanzen aus. Mit immer neuen Sparvorschlägen – auch bei Kitas oder Lehrern – beruhigt er die Sehnsucht vieler Bürger nach einer harten Hand. Auch deshalb ist er der einzige Senator, der dem Regierenden Bürgermeister regelmäßig die öffentliche Aufmerksamkeit streitig macht.

Klaus Wowereits Popularität macht die Blässe seiner Senatsriege nicht nur wett, sie ist ohne den grauen Personalhintergrund gar nicht möglich. Nur so kann er sich von seinen Verwaltungschefs schillernd abheben. Sie scheinen für die Arbeit zuständig, Wowereit für die Repräsentation. Aus dem beinharten SPD-Fraktionschef wurde so in der öffentlichen Wahrnehmung erst der „Regierende Partymeister“, der sich langsam zum Fakten sammelnden Experten für das größte Infrastrukturprojekt Berlins wandelte, den Großflughafen BBI in Schönefeld. Die Mischung aus Ernsthaftigkeit und vermeintlichem Glamour kommt an. Wowereit führt regelmäßig die Beliebtheitsranglisten der Landespolitiker an.

Ist der Sieg der Amtsvorsteher und ihres Chefs bei den Wahlen im September also sicher? Noch lange nicht. Im April 2004 kam die SPD in Umfragen nur auf 21 Prozent, die CDU auf 34 Prozent. Heute ist es umgekehrt. Vieles kann die Wählerstimmung erneut drehen: Ein populärer Unions-Spitzenkandidat beispielsweise oder ein enttäuschendes Urteil des Bundesverfassungsgerichts: Wowereit predigte über Monate die Zahl von 35 Milliarden Euro Bundeshilfen, die Berlin von den Karlsruher Richtern erhoffe. An ihr wird er sich messen lassen müssen.

Übrigens begleiteten den Anfang von Rot-Rot nicht nur Ängste vor Kommunisten im Roten Rathaus. Der Rhetoriker und Publizist Walter Jens erhoffte beispielsweise ein Bündnis, das „den Zentralbegriffen Sozialismus und Demokratie neue Perspektiven eröffnen“ könnte.

Ängste wie Hoffnungen sind vier Jahre später sanft entschlafen. Eigentlich schade, diese unspektakuläre Geschäftigkeit. Aber von biederen Amtsvorstehern ist eben nichts anderes zu erwarten.