Plastische Probleme

Das Kunstmuseum Wolfsburg feiert den neuen Direktor Markus Brüderlin, der Kunstverein verfrüht eine hundertjährige Geschichte der Modellstadt

VON BRIGITTE WERNEBURG

Das Pop-Museum Wolfsburg hat sich erst einmal erledigt. Mit Ausstellungen wie „Full House“ zur Young British Art, „Sunshine & Noir“ zur Kunst in L. A. oder „German Open“ zur deutschen Szene hatte Gijs van Tuyl dieses Profil geschärft. Und als er in einer Schau wie „Painting Pictures“ die Welle des Malerei-Hypes ritt, hatte der in Ankäufen von Eberhard Havekost oder Neo Rauch längst seinen Niederschlag auch in der Sammlung gefunden.

Markus Brüderlin, der neue Direktor des Kunstmuseums Wolfsburg, will dagegen in seinem Programm die Referenz auf die klassische Moderne verstärken, gab er auf einer Pressekonferenz am Donnerstag vergangener Woche bekannt. Auch den multidisziplinären Austausch zwischen Kunst und kunstverwandten Bereichen wie Design, Architektur und Werbung, der erstmals in der klassischen Moderne erprobt worden war, will er intensivieren.

Es versteht sich von selbst, dass Brüderlin am Donnerstag mit dem gut erinnerten, irritierenden Charme des Gründungsdirektors nicht mithalten konnte. Das gelingt wohl niemandem. An Gijs van Tuyls fortwährendem groß- und blauäugigem Staunen über sein wunderbares Museum, sein fabelhaftes Team, den erstaunlichen Gijs van Tuyl und die tollen Ausstellungsprojekte darf sich seit letztem Jahr das Publikum des Amsterdamer Stedelijk-Museums erfreuen. Wolfsburg dafür an der tatkräftigen Entschlossenheit, mit der Brüderlin seine neue Aufgabe angeht.

Schon Ende März wird er sich dort mit einer von ihm konzipierten Schau vorstellen. „ArchiSkulptur: Dialoge zwischen Architektur und Plastik vom 18. Jahrhundert bis heute“ ist eine Übernahme aus der Fondation Beyeler in Basel, wo Markus Brüderlin die letzten acht Jahre leitender Kurator war. Zuvor arbeitete der 1958 in Basel geborene Kunsthistoriker in Wien. Dort gründete er nicht nur die Zeitschrift Springer, die sich inzwischen als Springerin die Geschlechtergerechtigkeit auf ihre Fahnen schrieb, sondern auch den „Kunstraum Wien“.

„ArchiSkulptur“ meint die Fortsetzung der Geschichte der Skulptur in der auffällig plastischen Qualität der Gegenwartsarchitektur beobachten zu können – gerade vor dem Hintergrund eines sichtlichen Bedeutungsverlusts der Skulptur in der Kunst. Entwickelte sich die Plastik in der Folge von Joseph Beuys in die Gesellschaftstheorie weiter, verflüchtigt sie sich in der Installation gerne wenn nicht im sozialen, dann im realen Raum.

Der Blick zurück auf die Wechselbeziehung von Raum- und Körperkunst scheint jedenfalls lohnend. Interessanterweise rechtfertigt er die aktuelle Museumsausstellung mit dem türkisch-zypriotischen Modemacher Hussein Chalayan einmal mehr. Vor allem die Auseinandersetzung mit dem dreidimensionalen menschlichen Körper, mit der figurativen Skulptur also mehr noch als mit der abstrakten Plastik, scheint in der Welt der Kunst wie des Designs obsolet geworden. Mit Malerei, Film, Fotografie, Videoinstallation oder Computeranimation beherrscht das zweidimensionale Bild die Szene. Und die rechnergestützte, virtuelle dritte Dimension des Bildschirms macht den Modellbau weitgehend überflüssig.

Gibt es die in „ArchiSkulptur“ unterstellte, insgeheime und auf verschlungenen Wegen sich anbahnende Rückkehr des Körpers, dann könnte das hohe Interesse an der Mode die Weigerung bedeuten, sich mit dem Verlust des raumgreifenden Körpers und des haptischen, taktilen Moments seiner Oberfläche abzufinden. Wir frönen weiterhin unserer Lust an der Figur, ihrer Gestik, ihren Posen und Inszenierungen, ihren biologisch gegebenen wie künstlich überformten Proportionen, freilich nun im Umgang mit Kleidern und Mode, beim Studium von Schnitt und Faltenwurf, beim Inspizieren der Materialien und ihrer konstruktiven Verwendung.

Nur folgerichtig, dass wir im Museum nun Kleider umschreiten und bestaunen, nachdem ihre modische Skulptur auf dem Podest des Laufstegs in die Welt kam. Gerade bei Hussein Chalayan, einem ausgesprochen konzeptuellen Modemacher, der stark mit dem virtuellen Moment von Computer und Video arbeitet, fällt die plastische, die Grammatik des Körpers neu bestimmende Qualität seiner Entwürfe auf. Etwa bei den Hauben aus Holz oder Kunststoff, die den ganzen Kopf einschließen, oder dem techno-utopischen Kleid aus Fiberglas, dessen Rock sich per Fernbedienung öffnen und darunter üppige Lagen von Tüll vorscheinen lässt. Die weiße Plastik dieses „Remote Controll Dress“ erscheint geradezu wie die zeitgemäße Paraphrase auf die klassische Statue aus weißem Marmor. Sein enormes Vermögen, die skulpturalen Aspekte seiner Entwürfe auch als taktile und haptische Qualitäten auszuformulieren, zeigt etwa die Frühjahrs/Sommerkollektion 2003. Auch Chalayan legte in den leichten Trikotkleidern den zu diesem Zeitpunkt berühmt gewordenen Bauchnabel frei, allerdings auf eine Weise, in der die mehrlagig und mehrfarbig unterfütterte Öffnung fatal an einen blutigen, den Körper sprengenden Bauchschuss erinnerte. Darin einen Verweis auf den Irakkrieg zu sehen, ist sicher nicht zu weit hergeholt: Politik, die plastisch wird.

Ein Projekt, an dem sich auch die Ausstellung „Industrie Stadt Futurismus. 100 Jahre Wolfsburg/Nowa Huta“ im Kunstverein Wolfsburg versucht. Zwölf Einzelkünstler beziehungsweise Künstlergruppen aus Deutschland und Polen schauen hier aus den Jahren 2038 und 2049 auf die Entwicklung der beiden, einstmals am Reißbrett entstandenen Modellstädte zurück, und insgesamt ist eine radikale Absage an jede futuristische Utopie zu konstatieren.

Janek Simon aus Krakau entwirft eine Karte der essbaren Pflanzen und Tiere in Niedersachsen, da er zum Zeitpunkt von der völligen Verwüstung und einem Leben in der Wildnis ausgeht. Dagegen scheint Neil Cummings und Marysia Lewandowskas Niedergangsszenario noch harmlos, das sie in einer von Bananenkisten und Plastikstühlen umstellten Doppelprojektion als die Herrschaft der Straßenmärkte visionieren. Ganz kühl verweist Silke Riechert in ihrem Modellbau auf den schon stattgefundenen Untergang des Fordismus und seiner Heimatstadt Detroit. Die Stadt am Erisee wurde zuletzt in einem ganz unerwarteten Sinne zur Gartenstadt, als die sowohl die Automobilstadt Wolfsburg 1938 wie der Stahlproduktionsort Nowa Huta bei Krakau 1949 angelegt wurden.

Jakub Szreder auf polnischer und Martin Kaltwasser auf deutscher Seite kuratierten die Schau, organisiert vom Büro Kopernikus, einer Initiative der Bundeskulturstiftung zum deutsch-polnischen Kulturdialog, die die beteiligten Künstler zu je einem Workshop in den beiden Städten einlud, um Wissen und Ideen auszutauschen. Vor Ort nun, in Wolfsburg, umhüllt Martin Kaltwasser ihre Arbeiten mit einem weißen, technoiden Stoffkokon, der die wirklich historischen Steinmauern des Wolfsburger Schlosses wegblendet.

Die formale skulpturale Radikalität allerdings, die etwa Thomas Hirschhorns soziale Plastiken auszeichnet – der billige, aber effektive Glanz des Staniolpapiers, der seinen frühen Installationen wilde Schubkraft gab – sucht man in seinem Schutzraum vergeblich. Ob Daniel Banaczek Teenager und Kinder in Nowa Huta über ihre Zukunftsvorstellungen befragt oder ob Modularbeat und Łukasz Stanek Senioren in Wolfsburg zum gleichen Thema – als eine Vision der Vergangenheit – interviewten: Zu brav ist die sozialplastische Tonspur mit Videoaufnahmen aus Stahlwerk und Stadt oder Tischdeckchen mit dem Stadtrundblick aus dem Altenheim garniert. Ganz krass gesagt, überrascht die installative und historisch-futuristische Imagination, die in den Installationen im Kunstverein deutlich wird, so wenig wie die malerische von Eberhard Havekost.

Einhundert Arbeiten des Künstlerstars aus Dresden versammelt das Kunstmuseum zurzeit, um die eigenen Erwerbungen im Kontext des Werks zu präsentieren. Der Eindruck der Eintönigkeit, der sich im Rundgang herstellt, liegt nicht zuletzt daran, dass den hundert Gemälden vielleicht vierzig verschiedene Motive zugrunde liegen. Am Ende ist es noch am spannendsten, zu schauen, welche Sammler sich welche Motive teilen. Offenbar in größter „Harmonie“, wie der Ausstellungstitel sagt.

„Industriestadtfuturismus“, Kunstverein Wolfsburg, bis 19. Februar; bis dahin auch Eberhard Havekost, „Harmonie, Bilder 1998 bis 2005“, Kunstmuseum Wolfsburg; dort bis 5. Februar, Hussein Chalayan, „Fashion & Video“