Holz ist meine Gitarre

Auch jenseits des Polarkreises gibt es Dorfpunks: Reza Baghers Bestsellerverfilmung „Populärmusik aus Vittula“

Die Single hat deutlich mehr als 45 Umdrehungen in der Minute, und auch die zwei Jungen, die sich zuckend zu „Rock ’n’ Roll Music“ von den Beatles bewegen, sind ihrem Publikum einige Umdrehungen voraus. Es ist Mitte der Sechziger in dem nordschwedischen Dorf Vittula und von Rock-Musik hat hier noch keiner gehört. Doch dann, in der „witzigen Stunde“ in der Volksschule, ist es so weit: die siebenjährigen Schüler Matti und Niila feiern ihre Bühnenpremiere. Und ihr Auftritt zeigt „Fab Four“-hafte Wirkung: Am Ende sind die Mädchen gleichermaßen verschreckt wie verzückt und das Mobiliar ist in Stücken. Danach ist nichts mehr so, wie es war. Als Niilas Vater ihn für den Auftritt verprügeln will, läuft Niila zum ersten Mal weg. Der rebellische Funke des Rocks hat oberhalb des Polarkreises gezündet.

Freundschaft, Musik, Pubertät und Aufwachsen in der Peripherie sind die Themen, die Autor Mikael Niemi in seiner 2000 erschienenen, gleichnamigen Romanvorlage „Populärmusik aus Vittula“ zu einer wilden, begeisternden Mischung brachte. Über 750.000-mal hat sich das Buch in seiner Heimat Schweden verkauft, in Deutschland über 100.000-mal. Wie bei vehement geliebten Büchern üblich, galt der halb autobiografische Roman zunächst als unverfilmbar. Auch Regisseur Reza Bagher lehnte das Angebot, den Bestseller zu verfilmen, mehrfach ab. Erst als er das Skript selbst in enger Abstimmung mit Niemi entwickeln konnte, traute er sich das Projekt endgültig zu.

Herausgekommen ist ein Film, der dem Buch in scheppernder Komik und brachialer Tragik in nichts nachsteht. Bloß nicht knapsu sein, ist die Devise der Jungen aus Vittula. Knapsu, das heißt weibisch, tuntig, verweichlicht. Was wie der Ausdruck einer breiten Machokultur daherkommt, ist in Wahrheit ihr letztes Röcheln. In Vittula gewinnen Frauen das Fingerhakeln und füllen Schwestern ihre kleinen Brüder mit Wein ab. Versehen mit der Drohung, dass, wenn die den Eltern was erzählten, sie ihnen die Köpfe abreißen und in den Stumpf pissen würden.

Trotzdem haben Matti und Niila ein Problem damit, dass selbst Rock als knapsu gilt. Ganz unverständlich ist das nicht: Vittula ist so unberührt von Pop- und Jugendkultur, dass sich Musik noch gar nicht als Distinktionskriterium etabliert hat. Außerdem ist die Art, wie die Band von Matti und Niila zu ihren Instrumenten gekommen ist, auch eher unrühmlich. Der neue Musiklehrer Greger, mit Rennrad, Gitarre und nur sechs Fingern gerade aus dem Süden hergezogen, hat sie in einer Art Wettfahren mit dem Schulbus gewonnen. Hier nimmt Regisseur Bagher die anekdotenhafte Struktur der Buchvorlage überdeutlich auf. Gerade am Anfang, als Matti und Niila noch Kinder sind, springt die Kamera dazu noch von Einstellung zu Einstellung. Erst als die Jungen in die Pubertät kommen, findet der Film zu seinem eigenen Tempo und Thema: der Freundschaft.

Bargher zeigt, wie Matti und Niila heran- und dann aus ihrem Leben in Vittula herauswachsen. Zwar hat Vittula mit halluzinogenen Drogen, selbst gebranntem Schnaps und fliegenden Händlern mit Hang zum Crossdressing mehr zu bieten als so manch andere Provinz. Aber, wie Matti einmal sagt: „Die Leute hier sind nur kreativ, was das Überleben angeht.“

Provinz-Bildungsromane mit popkulturellem Drall haben sich fast zu so etwas wie einem eigenen Genre entwickelt. In Deutschland haben Rocko Schamonis „Dorfpunks“ oder Heinz Strunks „Fleisch ist mein Gemüse“ mit ähnlichen Geschichten großen Erfolg gehabt. „Populärmusik aus Vittula“ unterscheidet sich davon in einem wichtigen Punkt. Hier erzählt keiner, der später in irgendeiner Szene angekommen ist und mit der Lässigkeit des Arrivierten seine Jugend preisgeben kann. Bei Niemi und Bargher bleibt die große Erlösung wahlweise durch die Musik oder die Großstadt unerfüllt. Noch schlimmer: für einen der beiden Jungs endet die Emanzipation vorzeitig. Allein wie der Film diese Geschichte eines zu kurzen Lebens in einer erzählerischen Klammer zusammenfasst, ist sehenswert. In der ersten Szene irritiert zunächst ein Witz, der dem Schenkelklopfer „Dumm und Dümmer“ direkt entnommen zu sein scheint. Doch in der letzten Sequenz löst sich das so auf, dass es einem das Herz zerreißt. Und das, obwohl eine Menge Urin im Spiel ist. So was soll einer „Populärmusik aus Vittula“ erst mal nachmachen.

HANNAH PILARCZYK

„Populärmusik aus Vittula“, Regie: Reza Bagher. Mit Niklas Ulfvarson, Tommy Vallikari u. a. Schweden/Finnland 2004, 100 Min.