Hauptsache, raus hier

Klara ist sechzehn und will weg aus dem Dorf, wo sie keine wirklichen Freunde hat, die Bibliothek geschlossen ist und die Discothek Big Paradise nicht einmal ein kleines Paradies ist

VON BARBARA BOLLWAHN

An diesem Samstagabend trifft es Klara. „Die Nummer zwölf auf die Bühne, aber dalli!“, ruft der Discjockey hinter dem Pult hervor. Klara hat die Nummer zwölf. Gelassen bahnt sie sich den Weg durch die grölende Menge im Big Paradise. Wie jeden ersten Samstag im Monat ist Misswahl angesagt. Wer am Einlass die Nummer gezogen hat, die der Discjockey auslost, muss auf die Bühne, da beißt die Maus keinen Faden ab.

Klara weiß, was sie erwartet. Bei den Miss- und Misterwahlen im Big Paradise werden keine Abendkleider, Bikinis oder Muskeln vorgeführt. Jeder führt sich selber vor. Das heißt: Jeder macht sich zum Affen, so gut er kann. Klara findet das ziemlich bescheuert. Aber es gibt keine Alternative zum Big Paradise, zumindest nicht in Krall, dem Dorf, in dem sie wohnt. Mit zwei großen Schritten nimmt sie die vier Stufen hoch auf die Bühne. Vor dem Mikrofon bleibt sie stehen. Sie stemmt die Arme in die Hüften, überlegt kurz und stellt eine Frage aus Trivial Pursuit. Sie weiß, dass im Big Paradise Witze unter der Gürtellinie gut ankommen. „Was ist am meisten behaart beim Elefanten?“, fragt sie. „Der Kopf, der Bauch oder der Schwanz?“ Nach wenigen Sekunden schreit ein Junge: „Der Schwanz!“

Klara ist von dem Scheinwerferlicht geblendet und erkennt erst nach einigen Sekunden, von wem die Antwort kommt. Es ist Marco, ihr Freund. „Woher weißt du denn das?“, fragt sie leicht genervt. „Weil ich einen Elefantenschwanz habe!“, ruft Marco, der mehr Bier getrunken hat, als er verträgt.

Das Publikum johlt und Klara ärgert sich, dass Marco die Lacher auf seiner Seite hat. Wieder stemmt sie die Arme in die Hüften. „He“, ruft sie ins Mikrofon. „Ich kenne einen guten Witz! Wollt ihr ihn hören?“, „Yeah!“, brüllt der halbe Saal. „Geil!“, die andere Hälfte.

„Kommt eine Frau mit einem Frosch auf dem Kopf zum Arzt“, beginnt Klara und schaut abwartend ins Publikum. „Quak, quak“, ruft einer aus vollem Hals. Andere stimmen ein. „Quaaaak, quaaak!“ Klara fängt noch mal an. „Kommt eine Frau mit einem Frosch auf dem Kopf zum Arzt. Sagt der Frosch zum Arzt: Ich hab da was am Arsch.“

Jetzt hat Klara die Lacher auf ihrer Seite. Mit stürmischem Applaus wird sie zur Miss Juni gewählt. Als Gewinnerin braucht sie drei Monate lang keinen Eintritt zu zahlen. Aber ihre Freude darüber hält sich in Grenzen. Denn das Big Paradise ist kein großes Paradies. Es ist nicht mal ein kleines. Es ist nur die einzige Diskothek in Krall.

Klara hält Ausschau nach Marco. Sie will mit ihm reden. Sie beobachtet die Jungs, die am Tresen stehen und sich an ihren Bierflaschen festhalten. Marco ist nicht dabei. „Mich kotzt das hier alles an“, sagt Klara zu ein paar Mädchen. „Ich hau jetzt ab.“ Die anderen gucken sie verständnislos an. Beim Weggehen schnappt Klara einen Satz auf: „Die hält sich wohl für was Besseres.“

Bevor Klara das Big Paradise verlässt, geht sie zu den Jungs an der Theke. „Hoho, da kommt unsere Miss Juni“, lallt einer, der sich kaum noch auf den Beinen halten kann. „Genau“, sagt Klara. „Miss Juni hat noch einen Witz zum Schluss, bevor sie dann nach Hause muss.“

Klara spricht gerne in Reimen. Das ist so ein Tick von ihr. Wenn andere Schüler ihren Eltern mit hängenden Schultern und weinerlicher Stimme eine schlechte Note ankündigen, sagt sie: „Wär ich heut zu Haus geblieben, hätt ich keine Vier geschrieben.“

Wieder hält sie nach Marco Ausschau. Wo steckt er bloß? Erwartungsvoll gucken sie die Jungs an. Die Mädchen an den Tischen tuscheln und eine ruft: „Lauter, Miss Juni, wir wollen den Witz auch hören!“

„Unterhalten sich zwei Freunde über ihre Freundinnen“, fängt Klara an. Die ersten Jungs lachen. Die Mädchen stoßen sich in die Seiten und warten gespannt. „Sagt der eine: Eh, meine Freundin ist so doof! Die hat sich ein Auto gekauft und hat gar keinen Führerschein!“ Die Jungs kriegen sich vor Lachen kaum noch ein. Plötzlich entdeckt Klara Marco. Er steht etwas abseits und sieht traurig aus. Klara wirft ihm einen kurzen Blick zu und erzählt weiter. „Das ist gar nichts, sagt der andere. Meine Freundin ist viel blöder! Die fährt mit einer Freundin in den Urlaub und hat sich zehn Kondome gekauft, dabei hat sie gar keinen Schwanz!“

Die Mädchen kreischen so laut, dass sich Klara die Ohren zuhält. Einer der Jungs zieht ein Kondom aus der Hosentasche und bläst es wie einen Luftballon auf. Als er die Luft rauslässt, grölen die Jungs. Marco stellt sich dazu. Er ist der Erste, der die Sprache wiederfindet. „Ach, da hat es uns Frau Schlau-Schlau aber wieder mal gezeigt.“

Klara ist die Lust vergangen, mit Marco zu reden. Grußlos geht sie raus. Es ist kurz vor Mitternacht. Ihr ist zum Heulen zumute. Sie erträgt das Big Paradise nicht mehr. Die schlechte und immer gleiche Musik dort. Die Jungs, die sich nur zusammen mit ihren Kumpels stark fühlen und allein den Mund nicht aufkriegen. Die Mädchen, die meinen, dass der Rest des Lebens darin besteht, zwischen den Farbtönen von Lippenstift und Lidschatten zu wählen. Jungs und Mädchen, denen es egal ist, ob sie Mechaniker oder Fleischer, Verkäuferin oder Friseurin werden, Hauptsache, eine Lehrstelle, irgendeine. Sie wollen auf eine andere Art besonders sein. Indem sie sich tätowieren und piercen lassen. Nur merken sie nicht, dass sie damit doch alle gleich aussehen.

Bis vor kurzem hatte Klara gedacht, in Marco jemanden gefunden zu haben, der sie wirklich versteht. Über vieles konnte sie mit ihm reden, er hörte ihr zu und gab ihr das Gefühl, nicht allein zu sein. Aber kaum waren andere dabei, wurde er unsicher und traute sich nicht, seine Meinung zu sagen.

Für den Bruchteil einer Sekunde überlegt sie, ins Big Paradise zurückzugehen und Marco zu holen. Sie stellt sich vor, er würde sie in den Arm nehmen und alles wäre gut. Aber sie weiß, dass nichts gut sein würde, dass sie sich noch einsamer fühlen würde. Deshalb lässt sie es sein.

Die Nacht ist sternenklar. Der Vollmond leuchtet auf das Big Paradise, die Diskothek, die früher ein Lebensmittelgeschäft war. Als vor einigen Jahren in der Kreisstadt ein Supermarkt aufgemacht hatte, schloss der Dorfladen und die Diskothek zog ein. Wo früher eine dicke Verkäuferin Blut- und Leberwurst auf die Waage gelegt hat, legt jetzt ein dicker Discjockey Platten mit schlechter Musik auf.

Klara läuft das kurze Stück bis zum Dorfausgang. Auf der Straße sieht sie eine Farbdose liegen. Sie stößt sie mit dem Fuß beiseite. Dann überlegt sie es sich anders und hebt sie auf. Es ist rote Farbe und die Dose ist noch halb voll. Vor dem Ortsschild bleibt sie stehen. Sie schaut sich um, um sicher zu gehen, dass niemand sie sieht, und sprüht ein n über das r. So wird aus Krall Knall.

Bis vor fünf Jahren hieß das Dorf in Sachsen Knall. Für die meisten der 600 Einwohner war das eine Strafe. Es reichte ihnen schon, dass alle Welt sich über ihren sächsischen Dialekt lustig machte, bei dem ein A wie ein verunglücktes O klingt, aus einem „weißt du“ ein „weesde“ wird. Alles hört sich irgendwie so breit gezogen an. Wie ein Breitmaulfrosch. Knall, Knallfrosch, so sahen das viele im Dorf und fanden das gar nicht lustig.

„Wie bescheuert“, sagt Klara zu sich selbst, als sie ihr Werk betrachtet und sich darüber wundert, dass die Erwachsenen keine anderen Probleme haben. Sie hat es nie gestört in einem Ort mit dem Namen Knall zu wohnen. Aber die Mehrheit wollte nicht, dass das in ihren Ausweisen stand. Deshalb hatten sie Unterschriften für eine Umbenennung gesammelt. Schließlich schaffte es der Bürgermeister, ganz offiziell aus dem „n“ ein „r“ machen zu lassen. Seitdem herrschte Ruhe.

„Diese verdammte Ruhe hier!“, ruft sie in die Dunkelheit und macht sich auf den Heimweg. Sie läuft vorbei an dem Kino Kapitol, in dem schon lange keine Filme mehr gezeigt werden. Wieder blickt sie sich um, holt die Farbdose aus der Jackentasche und macht aus dem „o“ ein „a“. Kapital statt Kapitol. Klara muss lachen.

Ihr Handy piepst. Klara zuckt zusammen. Es ist eine Nachricht von Marco. „Sorry“, steht da. Dieses eine magere Wort. Klara könnte schon wieder losheulen. Nach wenigen Metern erreicht sie ein Haus, dessen Fenster zugemauert sind. Es ist die ehemalige Bäckerei. Seit der Bäckermeister gestorben ist, kommt zweimal in der Woche ein Lieferwagen und bringt Brot und Brötchen, die nicht lange frisch bleiben.

Klara biegt um die Kurve und bleibt vor dem Kulturhaus stehen. Die Fassade wurde vor kurzem in einem strahlenden Gelb gestrichen. Doch der Inhalt ist der gleiche geblieben. In einem Glaskasten neben dem Eingang hängt das Programm. Klara liest es, obwohl sie weiß, dass sie das nur noch mehr deprimieren wird. Montags trifft sich die „Gymnastikgruppe für Jung und Alt“, mittwochs kommen die Kaninchenzüchter zusammen und freitags ist der Fotoverein „Auslöser“ dran. Zweimal im Jahr gibt es Bingoabende im Festsaal, den man auch für Hochzeiten mieten kann. Wenn Klara in Krall bleiben würde, würde sie irgendwann in der Sportgruppe für Jung und Alt Gymnastikbälle gegen die Langeweile jonglieren.

Klara hört ein Knacken hinter sich. Sie bleibt stehen und lauscht. „Ist da jemand?“, fragt sie in die Dunkelheit. Ihr ist ein bisschen mulmig. „Ich find das nicht lustig“, sagt sie. „Ich bin’s“, hört sie eine Stimme. Es ist Marco. „Ach, der Elefantenschwanz.“

Schweigend laufen sie ein Stück zusammen. Vor der Bücherei bleiben sie stehen. „Es tut mir Leid wegen vorhin.“

„Ist schon in Ordnung.“ Klara blickt auf die schmutzigen Scheiben der Bücherei. Seit ihrer Einschulung war sie regelmäßig in den Lesesaal gegangen, der von einer immer schlecht gelaunten Lehrerin beaufsichtigt wurde. Marco war oft der einzige Junge und Klara gefiel seine Ernsthaftigkeit, mit der er über Büchern von der Antarktis saß.

„Das ist doch komisch, oder?“, sagt Klara und dreht sich zu Marco.

„Was?“

„Na, dass die Bibliothek, in der wir uns kennen gelernt haben, jetzt zumacht, jetzt, wo …“ Klara hat einen Kloß im Hals. „Ich hab dich gern, Marco“, fängt sie noch mal an. „Aber …“ Klara muss schlucken. „Aber ich liebe dich nicht wirklich.“ Endlich ist es raus.

„Ich weiß“, sagt Marco mit belegter Stimme. „Ich habe das schon lange gemerkt. Trotzdem, ich werde nie vergessen, wie du mich angesprochen hast.“

Wochenlang hatten sich Klara und Marco im Lesesaal mit einem kurzen „Hallo“ gegrüßt. Klara hätte sich gerne mit ihm unterhalten. Doch keiner von beiden traute sich, den ersten Schritt zu machen. Tagelang überlegte Klara, wie sie mit ihm ins Gespräch kommen könnte. Schnell stand fest, dass Sätze wie „Was liest du denn?“ oder „Du bist aber oft hier“ auf keinen Fall gingen. Eines Abends im Bett fiel ihr eine gute Frage ein. Als sie Marco das nächste Mal sah, nahm sie ihren ganzen Mut zusammen und ging zu dem Tisch, an dem er saß. „Kann ich dich mal was fragen?“

Erschrocken blickte Marco sie an. „Ähm“, stotterte er, „ja, klar.“ Klara atmete tief durch. „Willst du wissen, was ich gerade lese?“

Klara verliebte sich in den schüchternen Marco. Weil er wissen wollte, was sie las.

„Ich habe mich vorhin im Big Paradise blöd benommen. Ich hätte nicht so viel trinken sollen.“ Marco legt Klara zögerlich den Arm auf die Schulter. „Du bist toll, Klara“, sagt er. „Aber ich habe Angst, dass ich dir nicht das Wasser reichen kann. Du weißt das, stimmt’s?“

Klara hört an seiner Stimme, dass er mit den Tränen kämpft. Sie will Marco nicht verletzen. Nur weil für ihn das Leben in Krall so, wie es ist, in Ordnung ist, muss sie ihm keine Vorwürfe machen.

Ein Auto fährt vorbei und taucht die beiden in grelles Scheinwerferlicht.

„Ich gehe weg von hier“, sagt Klara.

„Das überrascht mich nicht“, sagt Marco.

Sie umarmen sich. Klara ist traurig, dass es mit Marco nicht geklappt hat. Aber sie ist froh, dass er zumindest versteht, warum sie wegwill. „Kopf hoch, auch wenn der Hals dreckig ist“, sagt Klara zum Abschied.

BARBARA BOLLWAHN, 41, ist Reporterin der taz. Der Text ist eine leicht gekürzte Version des ersten Kapitels ihres heute erscheinenden Jugendromans „Mond über Berlin“, Thienemann Verlag, Stuttgart, 256 Seiten, 12 Euro