Du sollst echt sein!

Angela Merkel ist extrem populär, gerade weil sie sich die großen Gesten der Schröders und Fischers spart: Ihr gestischer Jargon entspricht der zeitgenössischen Politik der kleinen Münze

VON ROBERT MISIK

Angela Merkel ist, zwei Monate nach Einzug ins Kanzleramt, extrem populär: Zustimmungsraten wie die Merkels hatte, glaubt man den Meldungen der Demoskopen, weder Helmut Kohl in seiner 16-jährigen noch Gerhard Schröder in seiner 7-jährigen Amtszeit. Das ist erstaunlich: Bei den Wahlen hat Merkel einen „Sieg“ errungen, über dessen klägliches Maß sogar George W. Bush Witze reißt, und bei den Koalitionsverhandlungen wurde sie von SPD und CSU zurechtgestutzt. Von ihrem Wahlprogramm konnte sie im Grunde nur eines realisieren: Angela Merkel ist Kanzlerin.

Das Namensschild hängt

Und dennoch wird die Kanzlerin nicht verspottet, sondern extrem geschätzt. Aber warum nur? Nun, da sie mit einem miserablen Wahlergebnis ins Amt gekommen ist und ihr Namensschild ans Kanzlerbüro geschraubt wurde, interessiert dies den Souverän offenbar nicht mehr sonderlich – übrigens war etwas anderes auch nicht zu erwarten. Wer Kanzler ist, ist Kanzler, wie er oder sie es wurde, danach kräht kein Hahn mehr. Womöglich würdigt man gerade die coole Zielstrebigkeit, mit der Merkel es geschafft hat, sich trotz der schlechten Ausgangsbedingungen doch noch durchzusetzen. Das Regierungsprogramm, auf das sie ihre Koalitionäre verpflichtete, kennen all jene, die kein extravagantes Detailinteresse an Lohnnebenkosten und Absetzbeträgen haben, ohnehin nicht so genau.

Aber dieses Programm übersetzt sich in Bilder, in einen Gestus. Und der heißt: „Wir werden die Welt nicht verändern und Deutschland auch nicht neu erfinden. Wir haben ein paar Dinge zu tun und die werden wir ordentlich abhaken.“ Dieser Gestus und der Habitus der Kanzlerin selbst sind stimmig und beide stehen in Einklang mit der Lektion, die dem Wahlvolk über Jahre beigebracht wurde: dass in einer globalisierten Welt, in der die Größe der Probleme die Reichweite der Politik übersteigt, es eine „große Politik“ ohnehin nicht gibt; dass „Macht“ möglicherweise etwas ist, was ein amerikanischer oder chinesischer Präsident oder der Vorstandsvorsitzende eines großen multinationalen Unternehmens besitzt, aber gewiss kein Kanzler und keine Kanzlerin der Bundesrepublik Deutschland.

Insofern war Gerhard Schröder eine stetige und Fleisch gewordene Text-Bild-Schere, weil sein großspuriger Gestus immer wieder in Widerspruch geriet zu dem Unvermögen – das heute das Unvermögen jedes Spitzenpolitikers ist –, den Lauf der Dinge wesentlich zu beeinflussen. Darum wird Angela Merkels Nüchternheit, „die geradezu schmerzhafte Ausdrucksarmut ihrer Auftritte“ (Heinz Bude), als erfrischend erlebt. Nicht, dass daraus notwendig folgen würde, man könne heute in der Politik nur mehr mit Kleinideen reüssieren. Aber große Gesten verlangen große Ideen. Große Gesten und Politik der kleinen Münze – das ist unglaubwürdig. Und wenn die Politik schon über keinen grandiosen Plan verfügt, dann wird eher der unaufgeregte Habitus goutiert.

Merkel & Gender

Dieser „Neorealismus“ (Bude) passt gewiss zum Charakter jenes Individuums, das gegenwärtig die Kanzlerrolle inne hat, hat aber womöglich auch einen überindividuellen Aspekt – den Gender-Aspekt. Denn die großen Gesten, die sich Merkel spart, sind ja nicht nur Machtgesten, es sind auch männliche Machtgesten. Man soll das übrigens nicht einfach mit Machotum identifizieren: Es sind Posen und gestische Jargons, die wohl seit Jahrhunderten in das Repertoire zur Machtrepräsentation eingingen. Sie haben deshalb eine solche Anziehungskraft, weil sie der Figur, die sie anwendet, Sicherheit geben. Nur bekommt die Figur, die sich ihrer heute bedient, mit der Sicherheit auch einen Schuss ins Clowneske mitgeliefert – weil die Rolle sich gewandelt hat, die Geste aber nicht, und das eine mit dem anderen nicht mehr zusammenpasst.

Frauen bewahren sich, auch wenn sie in den Fundus dieses Repertoires männlicher Machtgesten greifen, doch meist eine gewisse Rollendistanz. Oft müssen sie sich dann sagen lassen, sie seien „linkisch“, doch immer häufiger hört man nun, sie seien „erfrischend anders“. Vielleicht ist all das auch Resultat der zeitgenössischen Authentizitätssehnsucht. Wenn „echt“ sein der größte Wert ist, haben die „Kanzlerdarsteller“ schlechtere Karten als die Kanzlerinnen, von denen es heißt, bei ihnen ist es so „wie bei jedem normalen Menschen“ (die FAS über Merkel). Übrigens: In Frankreich schickt sich die bisher kaum bekannte sozialistische Provinzpolitikerin Ségolène Royal an, im nächsten Jahr Jacques Chirac zu beerben.