Der Filmstreifen und die Asphaltstraße

Im Kino sitzt man zwar still im Sessel, ist aber trotzdem unterwegs. Ein Symposium in Bremen stellte die Frage, wie Film und Reisen zusammenhängen. Sehr eng, lautet die Antwort. Denn zwischen dem Bewegungsbild und den Erfahrungen eines Reisenden besteht eine strukturelle Verwandtschaft

Der Filmscout reist in Länder, von denen er außer Kinos wenigzu sehen bekommt

von DIETMAR KAMMERER

Film ist Bewegung. So selbstverständlich ist diese Feststellung mittlerweile geworden, dass es sich scheinbar kaum noch lohnt, darüber ein großes Aufheben zu machen. Ein Filmstreifen rast durch einen Projektor, und auf der Leinwand werden Menschen und Dinge in Bewegung versetzt, Räume durchquert. Kaum ein Film, der gänzlich ohne Ortswechsel auskommt. Eine leichte Aufgabe wurde den Referenten also nicht gestellt, als sie eingeladen wurden, auf dem „11. Internationalen Bremer Symposium zum Film“ über „Film als Kaleidoskop von Reiseerfahrungen“ zu sprechen.

Reisefilme, so könnte man den Grundtenor der Beiträge wiedergeben, sind gar kein Genre, keine abgrenzbare Einheit innerhalb der Filmgeschichte, sondern Ausdruck einer strukturellen Analogie zwischen dem Bewegungsbild und den Erfahrungen, die jemand macht, der sich auf den Weg macht. Filme zeigen uns keine Reisen, sie nehmen uns auf welche mit, selbst wenn wir für die Dauer der Vorführung in unseren Kinosesseln stillgestellt werden. Dass sich jedoch die Zuschauer im frühen Kino entsetzt zur Seite geworfen oder gar schreiend den Saal verlassen hätten, wenn sie einen gefilmten Zug auf sich zurasen sahen, ist dabei ebenso unwahr wie lehrreich. Tom Gunning, Filmhistoriker aus Chicago, zitierte diese nicht totzukriegende Legende, um auf eine grundlegende Motivation des Ins-Kino-Gehens hinzuweisen: die schiere Freude an der Kinetik des Filmbildes. Bevor die Lichtspiele uns etwas erzählen oder zeigen, wollen sie uns daran teilhaben lassen. Wer bei der Einfahrt eines Zuges vom Sitz rutscht, ist keineswegs der Illusion verfallen, sondern hat im Gegenteil begriffen, worum es geht: um den unmöglichen Eintritt ins Filmbild.

Das hat das frühe „Kino der Attraktionen“ (Gunning) noch gewusst und auch weidlich ausgenutzt. Die zahlreichen „phantom rides“, die um 1900 im Auftrag der ersten Studios entstanden, sind Beleg dafür. Die Kamera wird vorne auf ein fahrendes Vehikel – eine Eisenbahn, eine Tram – gesetzt, und schon wird die durchfahrene Landschaft eingesaugt, rast sie aufs Publikum zu und an ihm vorbei. Noch heute bieten Kugelkinos auf Jahrmärkten diesen Thrill, ins Bild hineinzustürzen, ohne aufzuschlagen. „Geisterfahrten“ beschrieben die so entstandenen Filme im eigentlichen Sinn, denn sie erlaubten ein Eintauchen in eine gefilmte Wirklichkeit, in der der Zuschauer sich nur als körperloser Blick wiederfinden konnte. Solche Fahrten kamen an kein Ende: Die Kollision wurde immer wieder hinausgeschoben, der Horizont blieb unerreichbar.

Kein Wunder, dass das Kino über dieser Unmöglichkeit melancholisch wurde. Wie Heide Schlüpmann berichtete, entdeckte das „Kino der zweiten Epoche“ um 1910 plötzlich die Außenseiter der bürgerlichen Gesellschaft, befasste sich mit Heimat- und Obdachlosen, mit Migranten und „Zigeunern“. Die Melancholie des Blicks auf die Straße rührte nicht zuletzt daher, dass das Kino selbst gerade dem Milieu des Varietés und der Schausteller entwachsen war, in dem es als Wanderkino seinen Anfang genommen hatte. Umkehr des Blicks: In dem Moment, als das Kino sesshaft wird, reflektiert es seine verlorene Affinität zu den „Verführungskünsten“, zu Schauspiel und Budenzauber.

Filme zeigen uns keine Reisen, sie nehmen uns auf Reisen mit

Wo aber die frühen Geschichten vom „fahrenden Volk“ wenigstens noch so etwas wie ein utopisches Moment aufscheinen lassen konnten – und sei es im Mord am Geliebten aus Leidenschaft, wie im Asta-Nielsen-Film „Abgründe“ –, kennt das Kino im Zeitalter der individuellen Massenmotorisierung nur noch zwei Fluchtpunkte: den Tod auf der Straße, mitsamt brennendem Motorrad-Altar wie in „Easy Rider“, oder die leere Bewegung ins Nirgendwo, wie in Monte Hellmans existenziellem Roadmovie „Two Lane Blacktop“. Der endet ebenfalls in einem Feuer: der Bildrahmen friert ein, kriegt Löcher, verschmort vor unseren Augen auf der Leinwand. Anders als in diesem „epiphanischen Moment des Kinos“, argumentierte in Bremen Drehli Robnik, konnte Hellman seinen Film gar nicht beenden, weil nämlich „Filmstreifen und Asphaltstraße dasselbe“ geworden waren. Im Gegensatz zum „larmoyanten Pathos des Scheiterns“ von „Easy Rider“ kennt der nur zwei Jahre später entstandene „Two Lane Blacktop“ nur mehr die Position der Immanenz: die Unmöglichkeit, eine coole Außenseiterposition zu besetzen. Die Unentrinnbarkeit des Alltags.

Bei Monte Hellman lassen sich zwei jugendlich-arrogante Fahrer eines aufgemotzten Chevrolets, die auf der Suche nach illegalen Rennen kreuz und quer durch ein gesichtsloses Amerika touren, auf eine Wettfahrt mit einem alt gewordenen Playboy und dessen Rennsportwagen ein. Geredet wird kaum, und wenn, dann über Jungszeugs wie technische Feinheiten des Tuning. Nicht einmal für die Tramperin, die sich meist hinten im Wagen langweilt, können sich die beiden jungen Männer interessieren. Weiter weg von den Freiheits- und Überschreitungsversprechen der Roadmovies geht es nicht.

Eine ganz andere Perspektive auf das Thema eröffnete Dorothee Wenner, Filmscout in Indien und Afrika für das „Internationale Forum des Jungen Films“ der Berlinale. Seltsames Paradox: Wer sich auf Reisen in ferne Länder begibt, um von dort ein Kino mitzubringen, das „bis an die Grenzen dessen geht, was Filmsprache ist“, kriegt von den Ländern selbst meist wenig zu sehen. Der Festivalbetrieb ist härter geworden, die Konkurrenz zu Forum-ähnlichen Programmen wie in Rotterdam erbitterter. Was unter anderem zur Folge hat, dass man auf nationale Filmschauen möglichst als Allererste anreist und die Filme als Videokopien auf Hotelfernsehern begutachtet statt auf der Leinwand. Andererseits ist vor allem in Afrika die Kinolandschaft bereits so weit zusammengebrochen, dass man kaum noch von einem funktionierenden Markt reden könne. Dennoch, so die Filmkuratorin, habe sie „den besten Job der Welt“. Mühsal des Reisens, aber auch: das Glück, plötzlich einen Film zu entdecken, der einen an einen Ort entführt, von dem man nie zuvor zu träumen gewagt hätte.