Mozart retten! Aber vor wem?

Wolfgang Amadeus Mozart ist der problematischste Komponist der Welt. Heute begeht die Welt seinen 250. Geburtstag. Aber was haben wir überhaupt an ihm? Gibt es einen Mozart jenseits der übermächtigen Klischees von Heiterkeit und Entzücken?

VON BJÖRN GOTTSTEIN

Richtig gern haben kann man Mozart eigentlich nicht. Und damit will ich nicht einmal etwas über die charakterlichen Defizite des Komponisten gesagt haben, die uns, wie Wolfgang Hildesheimer einmal mutmaßte, davon abgehalten hätten, ihn auch nur zum Essen einzuladen. Und man muss auch nicht gleich so weit gehen wie Glenn Gould, der meinte, Mozart sei mit 35 Jahren „eher zu spät als zu früh gestorben“. Das Problem ist schlicht und ergreifend, dass mit Mozart kein Distinktionsgewinn zu verbuchen ist. Zwischen dem siebten und dem achten Bier kann man sich mit Monteverdi brüsten, Wagner verteidigen, ja sich notfalls noch als Smetana-Liebhaber zu erkennen geben. Aber Mozart geht einfach nicht.

Mozart gehört längst anderen. Den Liebhabern und Schwärmern. Und kaum ein Komponist ist so fest im wertekonservativen klassischen Musikleben verankert. Seine Hagiografen nähern sich ihrem Objekt mit schamloser Intimität: Sie duzen ihn, versichern ihm, ihn recht verstanden zu haben, und vor seinen Frevlern schwillt ihnen die Brust. Noch heute erscheinen Bücher wie „Mein Leben mit Mozart“ von Eric-Emmanuel Schmitt („Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran“), in dem sich der Autor mit Mozart gegen den „ideologischen Konformismus“ der Avantgarde verschanzt und vor der „hypothetischen Musikgeschichte“ in Schutz nimmt. Bücher wie die Biografie des Musikwissenschaftlers Martin Geck, der erst einmal die Genealogie Bach–Beethoven–Wagner–Schönberg in Frage stellt, dann der klassischen Werkanalyse ihre Existenzberechtigung abspricht und sein (und Mozarts) Heil in Unsagbarkeitsbeteuerungen und Musikführerpoesie sucht. Bezeichnenderweise wird Mozart selbst dabei eher nicht auf sein mögliches Verhältnis zur Avantgarde und zur Musikgeschichte hin befragt. Es wird vorausgesetzt, dass er die Meinungen des konservativen Kulturlebens teilt. In der SWR-Talkshow „Mozart – Mythos und Genie“ orakeln Anne-Sophie Mutter und Hanns-Josef Ortheil: „Mozart hätte diese Inszenierung genauso verabscheut wie ich.“ Und: „Hätte Mozart im 20. Jahrhundert gelebt, wäre er ganz sicher kein Popmusiker geworden.“

Nun muss man zweierlei unterscheiden. Zum einen ist der Reflex, Mozart zu verteidigen, nicht ganz unbegründet. Denn Mozart wurde nicht nur zu Lebzeiten die ihm gebührende Anerkennung verweigert. Tatsächlich haben sich seine Werke zwar in den Konzertprogrammen, nie aber im Kanon des musikphilosophischen Diskurses etabliert. Natürlich könnte man mit renommierten Philologien zu Leben und Werk die Strecke von Salzburg nach Wien pflastern. Aber den Diskurs prägende Wissenschaftler wie Theodor W. Adorno oder Carl Dahlhaus haben ihm keine längere Schrift gewidmet. Er bleibe der Größe nach nicht hinter Beethoven zurück, diagnostizierte schon E. T. A. Hoffmann ganz treffend, aber eben: „ohne Marter“.

Das bringt uns zum zweiten Punkt: der Musik selbst. Nein, die „Marter“ hört man ihr nicht an. Mozart zweifelt nicht an seinem Material und ringt nicht mit dem Handwerk. Skizzen, die auf einen zähen und qualvollen Entstehungsprozess schließen ließen, existieren nicht. Der schnelle Einfall und die leichte Hand sind sein Stigma. Zu den Mythen um Mozart gehört die Niederschrift der Ouvertüre zum „Don Giovanni“, die er angeblich nicht nur in der Kutsche nach Prag komponiert, sondern auch – ohne Partitur – gleich in einzelnen Orchesterstimmen niedergeschrieben haben soll – eine musikintellektuelle Leistung, die wenn überhaupt nur noch vom Fugen improvisierenden Bach überboten wurde.

Das Dilemma besteht nun darin, dass man Mozart einerseits leicht als musikalische Begabung schlechthin anerkennt, dass sich aus den Werken aber andererseits kein diskursives Kapital schlagen lässt. Kunst, daran hat man sich gewöhnt, weist auf die Möglichkeit kommender Utopien hin. Mozarts Werke hingegen gewähren den Himmel auf Erden. Der Reflex, Mozart gegen Diskurs, Avantgarde, Kritik und Negativitätsdenken abzugrenzen, geht also vielleicht sogar von der Musik selbst aus, sofern sie, überspitzt formuliert, dem Champagnertrüffel näher steht als Schillers „Räuber“ oder Goyas „3. Mai 1808“.

So deutlich will man es natürlich nicht gesagt haben. Es genügt ja schon ein Hinweis auf die fahlen Schatten und dunklen Ahnungen einzelner Arien, auf die pulsierenden Pausen und unaufgelösten Dissonanzen der Kammermusiken und die abgründige Melancholie der Dur-Adagios in den Klavierkonzerten, um Mozart als über seiner Zeit stehenden Komponisten von sozialrevolutionärem Rang auszuzeichnen. Aber das sind schon Sekundärmerkmale seiner Musik, mit denen man sich über die Schlagworte der Mozart-Rezeption hinwegsetzt. „Volle Gesundheit“ und „reiches Dasein“ bescheinigte ihm Otto Jahn, der 1856–1859 die erste Mozart-Monografie verfasste und ihm damit das fatale Attest des Klang gewordenen Wonneproppen ausstellte.

Mozart, das steht seither fest, ist die reine Affirmation. Die wichtigsten Erfahrungen, die einen beim Hören seiner Musik ereilen, heißen Heiterkeit und Entzücken. Und sofern im 18. Jahrhundert beide Begriffe ihre Bedeutung noch vor philosophisch-kontemplativem bzw. religiös-spirituellem Hintergrund entfalten konnten, mögen dies sogar einmal authentische Regungen gewesen sein. Heute hingegen stehen die Begriffe nicht besonders hoch im Kurs. Ja man muss sich fragen, ob sie jenseits der zur heiter-entzückten Grimasse erstarrten Mimik, die zu einem Stereotyp der Mozart-Interpretation geworden ist und gegen die das kritische Bewusstsein instinktiv rebelliert, überhaupt noch als wünschenswerter Affekt denkbar sind. Goethe zum Beispiel verleiht das Attribut der Heiterkeit dem Fleiß und sauberen Uniformen; von einer heiteren Revolution ist derweil nicht die Rede.

Im Rückblick erscheint es fast, als sei die ökonomische Autonomie des Künstlers die Voraussetzung für die politisch-diskursive Emanzipation der Kunst selbst. Mit seinem Spagat zwischen der aristokratischen Geschmacksherrschaft und der bürgerlichen, marktorientierten Öffentlichkeit, den Norbert Elias in seinem späten Mozart-Buch beschrieben hat, bereitet er einen neuen, nämlich den Beethoven’schen Künstlertypus vor, ohne ihn schon erfolgreich zu verkörpern. Vom Diktat des Adels hat Mozart sich in seinem kurzen Leben jedenfalls nicht befreien können.

Vielleicht sollte man sich dem Problem von einer anderen Blickwinkel her nähern: Was haben wir Mozart eigentlich zu verdanken? Unvergessene Melodien? Sein Gespür für Gassenhauer und Schlager wird häufig überschätzt. Zur Weihe des Klingeltons gebracht haben es allenfalls „Eine kleine Nachtmusik“, die ersten Takte der g-moll-Sinfonie KV 550, der türkische Marsch aus der Klaviersonate KV 331 und – für Waghalsige – die Arie der Königin der Nacht. Der langsame Satz des Klarinettenkonzerts wurde durch „Jenseits von Afrika“ über alle Hörerschichten hinweg berühmt.

Mozarts Verdienste liegen auf stilistisch-formaler Ebene. Er, der behauptete, jeden Stil zu beherrschen, hat ja eher einen eigenen, unverwechselbaren Stil gepflegt. Was Mozart tatsächlich beherrschte, waren Gattungen und Tonfälle. Er hat eine musikgeschichtlich problematische Epoche, die Jahrzehnte zwischen Barock und Romantik, zu Grabe getragen, indem er sie vollendete. Seine Musik ist Synthese ohne Dialektik. In dem Moment, im dem er den Hanswurst Leporello, die liebesverzehrte Donna Elvira und den waghalsigen Eroberer Don Giovanni in einer einzigen Szene zusammenführt, ohne die figurenspezifischen Klangklischees außer Kraft zu setzen, wird aus der barocken Oper das musikalische Drama. Mozart hinterlässt der Romantik verbindliche Gattungen und Formen: Die Sinfonie, das Konzert, die Sonate, das Streichquartett des 19. Jahrhunderts müssen – neben Haydn – wesentlich von Mozart her gedacht werden.

Lohnt es sich also vielleicht doch, Mozart – wie einst Adorno Bach – gegen seine Liebhaber zu verteidigen? Dem stehen zunächst die Werke selbst im Wege. Die zwanghaften Regelmäßigkeit der Perioden und der Berechenbarkeit der Modulationen, die man gemeinhin als klassische Ausgewogenheit würdigt, lassen zunächst kaum einen subversiven Zugang zu dieser Musik zu. Und trotzdem bekennt Glenn Gould, der kaum ein gutes Haar an Mozart ließ, es habe ihm im Zuge seiner Mozart-Einspielungen „großen Spaß gemacht, meine Finger die Tasten rauf- und runterlaufen zu lassen“.

Aber wer selbst einmal Mozart gespielt hat, kennt die Lust des gleitenden Schwebens, die diese Partituren bereiten. Gould nimmt die Sonaten in extremen, jede Vernunft übersteigenden Tempi: atemlos, ohne jeden Gesang (vom Summen des Interpreten einmal abgesehen) und mechanisch entstellt. Heiterkeit und Entzücken weichen; in der Parodie tritt das kalte Rattern der Moderne zutage. Wer hier Zuflucht sucht, ist verloren. Nehmen wir den zweiten großen Idiosynkraten unter den Pianisten: Vladimir Horowitz spitzt den emotionalen Gehalt der Sonaten zu – mit großzügigem Rubato, romantischem Tiefsinn und ein klein wenig Wiener Schmäh. Mit Werktreue und historischer Authentizität hat das nichts zu tun, wohl aber mit einer lyrischen Intimität, die anderen Einspielungen abgeht. Erwähnt seien auch Siegbert Rampes Einspielungen der Sonaten auf dem Clavichord. Das Clavichord ist ein seifig klingender Cembalo-Ersatz, Mozarts Lieblingsinstrument, auf dem er häufig komponierte. Rampe bearbeitet das Instrument mit physischer Wucht, was dem zierlichen Instrument einen erdigen Klang verleiht. Und plötzlich steht die galante Sonate in direkter Nähe zur Hackbrett- und Zithermusik des Alpenraums, werden Themenbögen und Geläufigkeit zu veredelten Ablegern volkstümlicher Rauheit.

Es ist also möglich, Mozart zu dekontextualisieren, ohne den musikalischen Sinn der Werke zu verletzen. Ja, erst dort, wo es gelingt, sich spielend über Zeitgeist und Tradition hinwegzusetzen, öffnen sich Sinnperspektiven, die nichts mit Heiterkeit und Entzücken, nichts mit Gesundheit und Glück zu tun haben. Stattdessen scheint Mozart der Aneignung und Aktualisierung dringender zu bedürfen als andere Komponisten. Denn dann tritt das affirmative Moment zugunsten eines kontemplativ-dramatischen Zuges zurück, über den zu schreiben spätestens zum 250. Todestag im Jahre 2041 möglich sein sollte. Bis dahin sei immerhin versichert, dass man bei allen Zweifeln nicht auf einen einzigen Ton Mozarts verzichten wollte – und das gilt für die erste Sinfonie KV 16 bis zum Salonstück für Glasharmonika KV 617.