„Angst ist kein Thema mehr“

Mit dem Roman „Shalimar der Narr“ kehrt Salman Rushdie an einen für ihn persönlich und literarisch wichtigen Ort zurück: Kaschmir. Ein Gespräch mit Rushdie über die Eigendynamik beim Schreiben, die weltweiten Auswirkungen des Kaschmirkonflikts und eine beleidigende Rezension von John Updike

INTERVIEW KATHARINA GRANZIN

taz: Herr Rushdie, Sie sind wahrscheinlich der meistfotografierte Autor der Welt. Was ist das für ein Gefühl, wenn man zu einer ganz gewöhnlichen Lesung geht und sofort von zwanzig Fotografen mit Blitzlichtern umringt wird? Gewöhnt man sich daran?

Salman Rushdie: Nein, tut man nicht. Man versteckt sich. Davor.

Haben Sie Angst, bevor Sie das Podium betreten?

Nein, oh nein. Ich weiß, dass das für Journalisten immer noch aktuell ist, aber für mich ist Angst schon lange kein Thema mehr. Nein, es ist schön, in einen Raum zu kommen, wo Leute sitzen, die sich für meine Bücher interessieren, was sollte daran verkehrt sein? Aber die Blitzlichter machen einen natürlich erst einmal blind. Es ist mir schon passiert, dass ich gute Bekannte nicht gegrüßt habe, weil ich sie einfach nicht sehen konnte, und mir hinterher anhören musste, dass ich unhöflich gewesen sei … (lacht) Ich habe also vielleicht ein Problem mit Blitzlichtern, aber sonst keines, nein.

Mit Ihrem neuen Roman „Shalimar der Narr“ kehren Sie an einen für Sie persönlich wichtigen Ort zurück. Ein Großteil der Handlung spielt in Kaschmir, woher Ihre Familie stammt und wo auch Ihr berühmter Roman „Mitternachtskinder“ seinen Anfang nimmt. Kommt dieser literarischen Rückkehr, nach zwei Romanen, die sich nicht oder nur sehr am Rande mit Indien beschäftigen, eine besondere Bedeutung zu?

Ganz ehrlich, ich weiß es nicht. Viele Dinge entwickeln sich nicht geradeaus, sondern drehen sich im Kreis. Mein Leben verteilt sich auf so viele verschiedene Orte, dass auch für mich selbst kaum vorherzusagen ist, welcher dieser Orte als nächster Anlass für ein Buch werden könnte. Allerdings war es, als ich „Der Boden unter ihren Füßen“ schrieb, sehr schwierig für mich, nach Indien zu reisen. Deshalb ist der Indienteil des Romans historisch. Und „Fury“, das in New York spielt – dieser Roman kam wie ein Sturm über mich und tauchte mehr oder weniger komplett fertig in meinem Kopf auf, sehr ungewöhnlich für mich.

Sie sind also nach Indien gereist, um „Shalimar der Narr“ zu schreiben?

Ich bin nicht explizit dorthin gefahren, um den Roman zu schreiben, aber so in den letzten sechs, sieben Jahren konnte ich im Verlauf vieler Aufenthalte mein Gefühl der Verbundenheit mit dem Land erneuern. Allein in den letzten zwölf Monaten war ich dreimal dort. Besonders Kaschmir liegt mir sehr am Herzen. Und das wäre wohl auch so, wenn meine Familie nicht von dort stammte.

Auf Ihrer Lesung im Literarischen Colloquium in Berlin sagten Sie, Sie seien sehr froh über die Aufnahme, die das Buch in Kaschmir gefunden hat …?

Ich war noch nicht in Indien, seit es erschienen ist, aber ich bekomme Post aus Kaschmir. Einer der größten Buchhändler in Srinagar schrieb mir, sinngemäß: „Mein Leben lang verkaufe ich Bücher über andere Leute, und jetzt endlich gibt es eins über uns.“ Über so etwas freue ich mich natürlich sehr. „Mitternachtskinder“ beginnt zwar auch in Kaschmir, das ist richtig, aber dieser Roman wurde geschrieben, bevor der ganze Ärger losging, in einer wesentlich unschuldigeren Zeit. Ich wollte schon immer etwas tun, um auf die furchtbare Situation im indischen Teil Kaschmirs aufmerksam zu machen, wo die Zivilbevölkerung aufgerieben wird zwischen der indischen Armee und islamistischen Guerillas aus Pakistan. Ich habe auch mehrere Artikel dazu veröffentlicht.

Ist das Kaschmir des Buchs nicht gleichzeitig auch eine Metapher oder Allegorie für etwas anderes?

Ein Roman ist immer am besten, wenn er davon handelt, wovon er handelt. Aber wenn man es richtig macht, können die Leser gewisse Resonanzen spüren. Immerhin ist in Kaschmir ein Aufstand gegen eine – wie die Leute sagen – Besatzungsarmee im Gange, und darüber zu schreiben, findet Resonanzen in anderen Teilen der Welt. Da muss ich kein Leuchtschild zwischen die Seiten stecken, auf dem steht, Achtung, ziehen Sie hier bitte die Parallele zum Irak.

In seiner Besprechung Ihres Buches im „New Yorker“ schrieb John Updike, Sie seien mit diesem Roman zum „Barden der einen grausamen Welt geworden, in der wir alle leben“.

Ja, ich weiß. Ich habe die Kritik gelesen und mich sehr geärgert. John Updike sollte nicht über politische Dinge schreiben; er ist besser, wenn es um Sex in den Suburbs geht. Ja, sicher, wir leben in einer einzigen, grausamen Welt, und ich habe keine Ahnung, was es heißt, ihr Barde zu sein. Allerdings … es gibt im Buch einen wiederkehrenden Satz, der lautet „Everywhere is a part of everywhere else“. Das ist etwas, was ich für wichtig, ja auch neu halte, denn früher war die Welt anders.

Ich meine, ich hätte diesen Roman auch auf Kaschmir beschränken können. Aber ich wollte zeigen, dass auch sehr weit voneinander entfernte Orte – Kalifornien, Kaschmir, die Philippinen, Straßburg während der Nazizeit, London in den Siebzigerjahren –, dass all diese Orte Teil einer einzigen Geschichte sind. Darin liegt eine große Schwierigkeit, denn so ein Roman gerät leicht allzu touristisch. Als Schriftsteller ist man mit dem Problem konfrontiert, all diese Welten auch überzeugend genug auszugestalten. Ich habe mich zum Beispiel regelrecht in die Recherche über das besetzte Straßburg gestürzt. Jetzt weiß ich mindestens hundertmal mehr darüber als vorher.

Also, mir hat der Roman wirklich sehr gefallen. Aber genau das war wohl der Teil des Buches, bei dem ich am wenigsten verstanden habe, wie …

Ach so, interessant, denn sehr viele Leute finden genau das Gegenteil, viele sagen, das Straßburg-Kapitel sei ihr Lieblingskapitel. Auch mein englischer Lektor hat mir gesagt, dass er dieses Kapitel am liebsten mochte.

Nein, es liegt an einer ganzen Reihe von Dingen. Vor allem wollte ich, dass Max Ophuls, der amerikanische Botschafter, dessen Vorgeschichte dort erzählt wird, eine außergewöhnliche Person ist. Und das Außergewöhnlichste, das er jemals getan hat, war wohl, in der Résistance zu sein. Das gab mir den Hintergrund, auf dem ich diesen extravaganten Charakter gestalten konnte, den „Fliegenden Juden“. Vor allem, nachdem ich das Bugatti-Flugzeug gefunden hatte.

Dieses Flugzeug hat wirklich existiert?

Ja, es steht heute in Oshkosh, Wisconsin, im Museum. Im wirklichen Leben ist es nie geflogen. Aber Bugatti hat es gebaut. Er wollte den Welt-Geschwindigkeitsrekord brechen, der damals von einer Messerschmitt gehalten wurde. Aber bevor es jemals fliegen konnte, wurde Paris besetzt. Immerhin hat er den ganzen Krieg über geschafft, es vor den Deutschen zu verstecken.

Was wussten Sie schon über dieses Buch, als Sie mit dem Schreiben begannen?

Das erste Bild, das ich hatte, war der Mord, mit dem es beginnt, der Tote mit seinem Mörder über ihm, und ich wusste, dass der Mord vor der Haustür seiner Tochter geschieht. Erst danach begann ich die Anwesenheit einer vierten Person hinter den Kulissen zu ahnen und verstand, dass sie die anderen verbindet, da sie die Ehefrau der einen, die Geliebte der zweiten und die Mutter der dritten Person ist. Da hatte ich also vier Charaktere, denen ich vertraute, und dann habe ich mich einfach jeden Tag an meinen Schreibtisch gesetzt, an diese Personen gedacht und überlegt, was sie wohl heute von mir brauchten.

Sie wussten noch nicht, dass der Roman sich zwischen Kaschmir und Los Angeles abspielen würde?

Ich wusste, dass der Mord im Westen geschieht, dachte aber noch nicht an Los Angeles. Und ich wusste, dass es um Kaschmir gehen würde, aber nicht, ob vor oder hinter den Kulissen. Ich dachte, es wäre vielleicht einfach eine Geschichte über diesen Mord, und die Hintergründe würden nur angedeutet – aber ich hatte mich geirrt. (lacht) Die Personen bestanden darauf, dass ich die ganze Geschichte erzählte. So wurde das Buch wesentlich länger, als ich gedacht hatte – und alles nur, um diese kleine Eingangsszene zu erklären.

Das Buch beginnt mit einer starken Szene und endet mit einer starken Szene …

Aber das war eine Entdeckung; das wusste ich vorher nicht.

Eine ganze Reihe von Kritikern assoziierte in der Schlussszene „Das Schweigen der Lämmer“.

Daran habe ich absolut nicht gedacht. Es gibt überaus viele Anspielungen auf Filme in meinen Büchern; aber im Fall von „Das Schweigen der Lämmer“, das muss ich sagen, ist das absoluter Quatsch. Das stand immer in schlechten Kritiken.

Bei Updike auch …

Bitte kommen Sie nicht wieder mit Updike!

Bitte, nur noch einmal. Wir waren nämlich noch nicht ganz fertig. In demselben Satz, den ich zitiert habe, sagte Updike, nun seien Sie kein Dritte-Welt-Schriftsteller mehr …

Ich weiß, ich weiß … die Sache mit dieser Besprechung ist nämlich, dass es scheint, als ob er Streit anfangen will.

Haben Sie das Angebot angenommen?

Noch nicht. (lacht) Aber wenn er Streit will, kann er ihn haben.

Mit der „Dritte Welt“-Bemerkung bezieht er sich auf Ihre indische Herkunft …

Das war eines der Dinge, die beleidigend waren. Ich meine, ich habe nie getan, als sei ich jemand anderes, als ich bin. Ich gehöre nicht zu den Unterdrückten dieser Erde, ich stamme aus einer wohlhabenden Familie und bin sehr komfortabel aufgewachsen. Aber, was auch immer Updike oder sonst jemand denken mag, ich habe eine tiefe Bindung an Indien und Pakistan, die wichtig ist für mein Werk.

Und Sie sind so etwas wie der Pate aller englisch schreibenden indischen Schriftsteller der jüngeren Generation.

„Mitternachtskinder“, und darauf bin ich wirklich stolz, hat in Indien die Tür geöffnet für eine neue Art des Schreibens. Und es war lange Zeit so, dass die jungen Schriftsteller mich mehr verehrt haben, als nötig ist. Das ist mittlerweile etwas anders. Es gibt nun schon eine zweite Generation, die eher bereit ist, mich vom Sockel zu stoßen.

Warum leben so außergewöhnlich viele englisch schreibende indische Autoren im Ausland?

Das stimmt gar nicht. Ja, Vikram Chandra lehrt an einem amerikanischen College, Amitav Ghosh hat eine Wohnung in New York, Rohinton Mistry lebt in Kanada etc. Aber alle verbringen große Teile des Jahres in Indien. Es ist einfach eine Eigenart der Welt, in der wir heute leben, dass man mehr als eine Adresse hat.

Welcher literarischen Szene fühlen Sie sich am meisten zugehörig? Der indischen? Der britischen? Oder würden Sie sich einfach als Kosmopolit bezeichnen?

Immer wenn ein indischer Autor ein Buch schreibt, landet es auf meinem Tisch, also bin ich wirklich gut informiert. Mit vielen Autoren bin ich befreundet, ja, natürlich fühle ich mich als Teil dieser Szene. Aber nicht nur. Ich war dabei, als in England Anfang der Achtzigerjahre viele extrem talentierte junge Autoren die Bühne betraten, unter anderen Ian McEwan, Julian Barnes und Kazuo Ishiguro, die alle gute Freunde von mir sind. Damals haben wir uns wie wild dagegen gesträubt, als „Generation“ bezeichnet zu werden. Heute sind alle älter – und nun irgendwie stolz darauf, zu diesem Haufen gehört zu haben, in dieser für die englische Literatur so glücklichen Phase. Und das bin ich natürlich auch.