Schöngeister und Katastrophentouristen

Aneinander geklammerte Skelette, zu Klumpen geschmolzene Schätze und atemberaubende Skulpturen: Das Focke-Museum zeigt Glanz und Grauen des Archäologie-Mythos Herculaneum, das im Jahr 79 nach Christus vom Vesuv vernichtet

Bremen taz ■ Die glühende Lava ist nicht das Schlimmste. Die Asche in der Luft macht das Atmen unmöglich. Aufs Meer flüchten? Das Wasser ist mit Bimsstein verstopft. Dreihundert Einwohner von Herculaneum suchen in den Bootshäusern Schutz. Es entkommt keiner. Das Verhängnis nennen Physiker eine „pyroklastische Wolke“: Dieses Inferno aus Asche, Gestein und bis zu 500 Grad heißer Luft tötet in Sekundenbruchteilen.

„Es ist viel Unheil in der Welt geschehen, aber wenig, das den Nachkommen so viel Freude gemacht hätte“, sagte Goethe über den Vesuv-Ausbruch im Jahr 79 nach Christus mit unverhohlener wissenschaftlicher Sensationsgier. Der kann ab heute auch in Bremen gefrönt werden.

„Die letzten Stunden von Herculaneum“ holt bisher nie jenseits der Alpen gezeigte Kunstschätze ebenso wie das Grauen in den Norden. Soweit, wie sich die Archäologie dieser Gefühlslage nähern kann: Mit den getreuen Nachbildungen der Skelette in den Bootshäusern, ineinander verklammert, die Zähne weit auseinandergerissen. Mit den Habseligkeiten, die die Flüchtenden zu retten versuchten: der eine sein Angelzeug, die andere Goldmünzen und fein geschmiedete Ohrringe. Als kleines memento mori sind solche Schätze mit der Lava zu formlosen Klumpen verschmolzen.

Dieter Bischop, Landesarchäologe und Initiator der bereits in Haltern und Berlin gezeigten Ausstellung, ist sonst mit Urwüchsig-Germanischem beschäftigt. „Wenn die Germanen es schafften, ein Stück aus römischer Handwerksproduktion zu ergattern, schleppten sie es herum, bis es nicht mehr ging“, weiß er. Ähnlich ergeht es Bremer Altertumswissenschaftlern bis heute. Die Region sei als „Missionsgebiet“ in Sachen klassischer Archäologie zu erschließen, findet Museumsdirektor Jörn Christiansen. Aber eine Parallele sieht er doch zwischen Bremen, das im Ausland nur durch den Hinweis auf das nahe Hamburg zum Begriff wird, und Herculaneum, Pompejis kleiner Schwester. Die mondäne kleine Schwester – womit sich die Parallelen schon erschöpft haben.

Während in Pompeji alles im Lavastrom verglühte, blieben in Herculaneum Zeugnisse der Alltagskultur aus organischem Material erhalten. Die einzige antike Wiege, oder ein signierter Brotlaib, der den Hausherrn der prächtigen Villa identifizierte, wo er gefunden wurde. Die Ausstellung appelliert an das Gefühl ohne Sensationshascherei, wendet sich an Katastrophentouristen ebenso wie an schöngeistige Römerversteher. Die filigrane Schönheit von zwei Marmorskulpturen, die auf brutalste Weise den Tod zweier Hirsche unter den Bissen der Jagdhunde zeigen, und die handwerkliche Präzision von obszönen, pornographischen Darstellungen machen eines deutlich: Die „edle Einfalt“ und „stille Größe“ antiker Menschen, wie sie der deutsche Klassizismus-Papst Johann Joachim Winckelmann postulierte, war höchstens die eine Seite der Medaille.

Die atemberaubenden Skulpturen und die abgetragenen und eigenes präparierten Fresken stehen im Focke-Museum völlig frei im Raum. Direktor Jörn Christiansen ist sicher, so viel Ehrfurcht – ja, den Begriff scheut er nicht – bei den strömenden Besuchern zu erzeugen, dass die Werke das unbeschadet überstehen werden. Dramatisch gedämpftes Licht und der Hintergrund riesiger Fotowände, die die Urgewalt der Mörderwolke, die verwundet-raue Oberfläche freigelegter Fresken zeigen, machen das Unheil nahezu fühlbar.

Am Schluss aber sieht man die Wucht der Katastrophe ebenso wie das pralle antike Leben gebändigt: Als Porzellanfiguren und Kinderzimmer-Deko hat der Klassizismus die übermächtigen Vorbilder verwurstet. Gemälde des 18. Jahrhunderts zeigen, dass Katastrophentourismus ein zeitloses Phänomen ist: Gepicknickt wurde am Fuß des Vulkans.

Annedore Beelte

Bis zum 21. Mai im Focke-Museum