Chinakracher für alle!

Chinesen durften gestern zum ersten Mal nach über zehn Jahren zur Feier des Neujahrsfestes wieder böllern. Klar, dass da Deutsche nicht fehlen dürfen. Denn die Zukunft gehört den Kracher-Touristen

AUS PEKINGGEORG BLUME

Was, Sie haben am Sonntag nicht geknallt? Oder waren in einem China-Restaurant und versäumten, der Bedienung ein frohes Neujahr zu wünschen? In welcher Welt leben Sie? Die New Yorker Finanzelite ist da weiter. Sie heuert mit viel Geld chinesische Kindermädchen an, damit ihre Kinder zweimal Neujahr feiern können und so nicht den frühen kulturellen Anschluss an die Globalisierung verlieren. Und wie global orientiert erziehen Sie?

Nutzen Sie die Chance, in der Neujahrsnacht Kindern zu erklären, dass das Schießpulver einst in China erfunden wurde? Ist Ihnen bewusst, dass die Deutschen mit ihren Knallern und Raketen am 1. Januar nur die Chinesen nachäffen und sich obendrein im Datum irren. Was würden wir denn sagen, wenn die Chinesen jetzt, sechs Wochen nach Heiligabend, Weihnachtsbäume aufstellen würden? Wir aber gefallen uns darin, jedes Jahr Wochen vor dem eigentlichen Beginn des Mondjahres ein großes chinesisches Neujahrsfeuerwerk abzufackeln.

Böller im Original

Man könnte also von einem Nachholbedarf der Deutschen beim Originalböllern nach chinesischer Art sprechen. Die Tourismusbranche macht sich darüber bereits Gedanken. Deutsche führen zum Stierkampf nach Spanien oder zum Opernbesuch nach Italien, warum also nicht zum Böllern nach China?, fragte sich kürzlich Cheng Jun, ein hellwacher Germanist, der in Peking ein führendes Reisebüro managt. Cheng nutzte deshalb das Wochenende, um die Chancen für Neujahrswallfahrten deutscher Touristen nach Peking auszuloten. Bisher bot sich die Gelegenheit nicht, weil das Knallen seit 1993 in der Hauptstadt verboten war, um Brände und Verletzte zu vermeiden.

Doch viele Pekinger Bürger bekundeten Jahr für Jahr ihre Unzufriedenheit, schrieben Briefe an die Behörden und beklagten die Verkümmerung einer stolzen Tradition. „Kulturverlust ist genauso schlimm wie der Verlust von Staatsgebiet. Die Leute essen nur noch Maultaschen und sitzen vor dem Fernseher“, wandte sich noch im August letzten Jahres ein Kritiker an die Pekinger Regierung. Erstaunlicherweise zeigte das Wirkung. Nach einer fast schon demokratischen Sitten ähnelnden Anhörung im Pekinger Stadtparlament wurde das Böllerverbot im September aufgehoben.

„Toll! Endlich wieder ein normales Neujahr“, entfuhr es nun Reisemanager Cheng, als er zur Mitternachtsstunde von Samstag auf Sonntag sich den Himmel über Peking rot färben sah. An Fernsehen oder Schlafen war nicht mehr zu denken. Also ging Cheng auf die Straße und überlegte, ob deutsche Touristen sich bei so viel Krach und Raketen wohl fühlen würden. Hatte nicht die New York Times in düsteren Gedanken die Lautstärke von Chinas Mondjahrsfeiern mit dem Donnergroll von Manövern der chinesischen Volksbefreiungsarmee verglichen? Aber soweit würden die weniger kriegsversessenen Deutschen nicht gehen, glaubte Cheng. Sicherheit wäre ihnen wichtiger. Doch nun beobachtete er, wie viele Pekinger beim Zünden ihrer Knaller neue Schutzbrillen trugen. Auch wurde in der Stadt nicht wild durcheinander und an jeder Ecke geknallt. Als würden die alten kommunistischen Straßenkomitees noch funktionieren, versammelte man sich an größeren Kreuzungen zum Feuerwerk. Durchaus touristenfreundlich. Ebenso die vielen festlich geschmückten Neujahrsmärkte, die am Sonntagmorgen in Parks und Tempeln öffneten: Cheng fand Schlangenbeschwörer und Straßenakrobaten, alte Geisterspiele und neue Basketballvergnügen für Kinder. Wenn nur Fleischspieße und kandierte Früchte auf den Märkten für Touristen sicher genug wären, überlegte Cheng.

Ein Knall auf die Kultur

Unabhängig von den Bedenken der Reisebranche aber ließe sich das chinesische Neujahrsfest hierzulande auf einfache Art und Weise populärer machen. Würden nicht Böllerstunden für Schulkinder am chinesischen Neujahrstag das China-Bewusstsein an unseren Schulen explosionsartig steigen lassen?

Viel drastischere Maßnahmen plant derzeit der Kongress in Washington. Bis zu 1,3 Milliarden Dollar wollen die US-Parlamentarier zusätzlich ausgeben, um den Chinesischunterricht an Amerikas Schulen zu stärken. 100 Millionen chinesische Schüler würden Englisch lernen, doch nur 50.000 US-Schüler Chinesisch, beklagt der Kongress.

Das Verhältnis dürfte in Deutschland ähnlich sein. Aber wer will denn gleich Chinesisch lernen? Warum nicht mit Knallern der anderen Kultur näher kommen?