Der Aufschwung – abwärts

Die Politik von Schwarz-Rot ist kontraproduktiv: Sie wird Arbeitsplätze und Wachstum kosten, glauben Konjunkturexperten aus allen politischen Lagern

„Die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Maßnahmen führen zu beachtlichen negativen Wirkungen“ „Erfahrungen zeigen: Am besten fahren langfristig die Länder, die behutsam viele Jahre sparen“

VON TARIK AHMIA

Ullrich Heilemann ist wahrlich kein ökonomischer Heißsporn. Über 30 Jahre hat der Professor für Volkswirtschaftslehre beim konservativen Rheinisch-Westfälischen Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) gedient, auch als dessen Vizepräsident. Doch als die neue Bundesregierung im vergangenen November vollmundig den schnellen Aufschwung versprach, hat sich der Konjunkturexperte schon ein wenig gewundert. „Der Tenor im Koalitionsvertrag hat mich irritiert“, sagt Heilemann. Mehr als 40 haushaltspolitische Einzelmaßnahmen im Koalitionsvertrag sollen helfen, die Arbeitslosigkeit abzubauen, die „Konjunktur in Fahrt zu bringen“ und die öffentlichen Finanzen zu sanieren. Doch Heilemann weiß: Die Maßnahmen der neuen Bundesregierung zur Belebung von Wirtschaft und Arbeitsmarkt bewirken aller Voraussicht nach genau das Gegenteil dessen, was sie erreichen sollen.

Der bodenständige Ökonom glaubt eben nicht an Wunder. Der Professor ist Spezialist für ökonomische Vorhersagen. Sein ganzes Forscherleben hat er der Entwicklung von so genannten Konjunkturmodellen gewidmet, mathematische Simulationen, mit deren Hilfe die künftige Entwicklung der realen Wirtschaft eingeschätzt wird.

Heilemann, der seit zwei Jahren in seiner Geburtsstadt Leipzig lehrt, weiß, wie vertrackt die Wirklichkeit sein kann: „Politikankündigungen blenden gerne Rückkopplungen in der Wirtschaft aus“, sagt der Ökonom. Genau hier liegt die Stärke seines Modells.

Wie in einem großen Computerspiel versuchen Konjunkturforscher, die Volkswirtschaft in Sektoren zu gliedern, ihre Bedeutung zu gewichten und die Wechselwirkung zwischen den Bereichen zu beschreiben. Seit 30 Jahren feilen Heilemann und seine Kollegen an dem Konjunkturmodell. Oft ist es nicht mehr als aufrichtiges Bemühen, denn oft macht die kaum fassbare Komplexität der Wirklichkeit den Modellbauern einen Strich durch die Rechnung.

Konjunkturforscher wissen: Die reale Wirtschaft ist ein Kartenhaus. Alles hängt mit allem zusammen. Wer einzelne Bereiche herauspickt und versucht, sie isoliert zu betrachten, wird erfahren, dass er der Wirklichkeit nicht gerecht wird: Jeder Eingriff in einzelne Bereiche – sei es Steuern, Sozialsystem oder Arbeitsmarkt – führt zu Dominoeffekten in der komplex vernetzten Realität.

Dennoch sind Aussagen möglich. So fingen Heilemann und seine Mitarbeiter vom Institut für Empirische Wirtschaftsforschung an zu rechnen, welche Auswirkungen die Konjunkturimpulse der neuen Bundesregierung haben: Steuern, Sozialversicherung, Arbeitsmarkt, Investitionen, Einsparungen. Kein Bereich, der nicht von den Reformmaßnahmen betroffen ist. Die wirtschaftspolitischen Vorhaben fütterten die Wissenschaftler in ihr Prognosemodell und analysierten deren ökonomische Auswirkungen bis einschließlich 2008.

Das Ergebnis ist ernüchternd: „Die im Koalitionsvertrag vorgesehenen Konsolidierungsmaßnahmen in den Jahren 2006 bis 2008 führen zu beachtlichen negativen Wirkungen bei Wachstum und Beschäftigung“, schreiben die Leipziger Forscher in ihrer Studie „Konjunkturvorbehalt“, die gerade in der ökonomischen Fachzeitschrift Wirtschaftsdienst erschienen ist – und offenbar nur wenigen Experten auffiel.

Die Aussichten sind trübe, das belegen die Zahlen. Allein in diesem und im nächsten Jahr werden die wirtschaftspolitischen Maßnahmen der Merkel-Regierung 130.000 Jobs kosten und das Wachstum um 0,5 Prozent drücken. Schuld daran sind die Rückwirkungen, die das Gemenge aus Sparkurs, Steuererhöhungen und Einnahmeausfällen auf das Wachstum und die Einkommen hat. In ihrer Studie ermitteln die Leipziger Forscher, dass als Folge der Konjunkturmaßnahmen die Preise steigen und die Einkommen sinken. Die Kaufkraft des privaten Sektors wird zurückgehen: um 2,8 bis 4,3 Prozent.

Das „Investitionspaket“ der Bundesregierung von jährlich etwa 6 Milliarden Euro verpufft im Prognosemodell nahezu geräuschlos, weil es mit 0,2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts viel zu gering bemessen ist, um einen merklichen Effekt auf das Wirtschaftswachstum zu haben. „Peanuts“, sagt Ullrich Heilemann.

Auch der mit Nachdruck verfolgte Abbau der Staatsverschuldung wird wohl nicht die angekündigten 70 Milliarden Euro bringen, sondern nur 54 Milliarden Euro.

Sogar das Herzstück des schwarz-roten „Konsolidierungskurses“ entpuppt sich als Schuss in den Ofen – die Erhöhung der Mehrwertsteuer um 3 Prozent ab 2007. Die Regierung hofft, die Konjunktur werde sich allein aufgrund der langfristigen Ankündigung am eigenen Zopf aus der Misere ziehen. Denn, so die Theorie, viele Bundesbürger würden teure Anschaffungen wie Autos, Fernseher oder Möbel auf dieses Jahr vorziehen, um der höheren Mehrwertsteuer zu entgehen – das Wirtschaftswachstum bekäme einen Schub. Dieser Aufschwung soll dann stark genug sein, um die Nachfragedämpfung durch die höhere Mehrwertsteuer ab 2007 wettzumachen.

Ein Kinderglaube, weil nicht nur Verbraucher ihre Ausgaben vorziehen, sondern auch Unternehmen die Preise vorzeitig erhöhen werden, erklärt Heilemann. Er kann sich der Unterstützung vieler Konjunktur-Koryphäen aus allen politischen Lagern sicher sein. „Die Mehrwertsteuererhöhung ist das Damoklesschwert. Sie schadet der Konjunktur“, sagt Alfred Steinherr, Konjunkturchef beim Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) (s. Interview).

Zustimmung kommt auch von den strammen Angebotstheoretikern des Kieler Instituts für Weltwirtschaft: „Heilemann hat Recht. Die Maßnahmen wirken im Jahr 2007 per saldo negativ“, so der dortige Konjunkturchef Joachim Scheide. Auch Gebhard Fleig vom Münchner IFO-Institut glaubt: „Von der Erhöhung der Mehrwertsteuer muss man einen dämpfenden Effekt erwarten.“ Das glauben auch die Konjunkturchefs vom RWI und dem gewerkschaftsnahen Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung.

So viel Gegenwind bringt das schön konstruierte Kartenhaus der Bundesregierung gehörig ins Wanken. Die hält dennoch an ihrer Baron-Münchhausen-Logik fest. Erst in der vergangenen Woche orakelte Bundeswirtschaftsminister Michael Glos von 2 Prozent Wirtschaftswachstum. Doch sein Pfeifen im Wald blendet die negativen Auswirkungen des historisch einmalig hohen Anstiegs der Mehrwertsteuer aus. Er wird die Inflation um mindestens 1,2 Prozent erhöhen, haben die Leipziger Forscher ausgerechnet.

„Man will den Deutschen immer weismachen, dass Konsolidierung nichts kostet“, sagt der Konjunkturforscher. Seine Botschaft ist klar: Wenn man ernsthaft etwas für Wachstum und Beschäftigung tun will, darf Deutschland in der jetzigen Lage nur einen sehr vorsichtigen Sparkurs fahren. „Alle Erfahrungen zeigen, dass langfristig die Länder am besten fahren, die behutsam über viele Jahre sparen.“

Doch auf diesem Ohr ist die deutsche Politik taub. Ihr Spardogma zehrt von der „wissenschaftlich“ behaupteten, wenngleich empirisch unbelegten These, staatlicher Schuldenabbau würde per se das Vertrauen der Verbraucher stärken und sich positiv auf den Konsum auswirken. Auch unter Kanzler Schröder wurde dieser Glaube gepflegt – und von der Wirklichkeit widerlegt: Keine noch so radikale Ankündigung der Haushaltskürzung trieb die Bevölkerung in die Geschäfte und ließ sie aus Begeisterung über den Schuldenabbau mit Geld um sich schmeißen, wie es die neoliberale Wirtschaftstheorie apodiktisch unterstellt.

Stattdessen verursachte der kräftige Tritt auf die Ausgabenbremse unter Bundesfinanzminister Hans Eichel Einnahmeausfälle, deren Kosten höher sind als der moderate und langfristig angelegte Abbau der Staatsverschuldung. Doch der Glaube an neoliberale Heilsversprechen ist auch in der neuen Bundesregierung ungebrochen. Ein Irrtum, glaubt Ullrich Heilemann: „Wenn Konsolidierung so schnell Erfolg bringen würde, dann hätten wir ihn schon längst gesehen.“