Der Absturz einer Arbeiter-Elite

AUS FLINT ADRIENNE WOLTERSDORF

Sie dachten, sie wären der Auto-Adel. Bis im Oktober ihr feudaler Traum zerbrach. Jetzt sitzt Amerikas Blaumann-Elite an den Bartresen und kann es nicht fassen: Bankrott in der Autoindustrie? Entlassung, keine Rente, keine Krankenversicherung? Was soll das?

Für Dennis Delling passt das alles nicht zusammen. Er hat gerade seine Frühschicht beendet und gönnt sich in „Jamin’s Bar“ sein erstes Budweiser. 2005 war für die Autokonzerne doch ein Rekordjahr, eines von vielen. Warum meldet dann im Oktober Delphi, einer der weltweit größten Autozulieferer, Insolvenz an? Dennis’ Firma, das Delphi Zündkerzenwerk in Flint, Michigan, wird im November schließen. „Irgendwie fühle ich mich verarscht“, sagt Dennis und rückt den Stetson auf seinem Kopf zurecht. Draußen weht der stetige kalte Wind von Kanada her durch die menschenleeren Industrielandschaften von Flint.

Von der „Vehicle City“ kündet ein verrosteter Triumphbogen über der Hauptstraße. Michael Moore, der umstrittene Filmemacher, machte die Stadt 1989 mit seinem ersten Streifen, „Roger & Me“, berühmt. Er zeigte, mit welcher Ignoranz Roger Smith, der Präsident von General Motors, in den Achtzigern mehr als 30.000 Leute entlassen und damit die Stadt Flint an den Rand des Ruins getrieben hat.

Dennis hat sich über den Film geärgert. Denn er ließ Flint, die General-Motors-Stadt, schlecht aussehen. Damals lachte er über die Scherze seiner Vorgesetzten. Als Dennis die ersten Zündkerzen für China zusammenbaute, sagten sie zu ihm: „Die sollen mal sehen, wie ordentliche Arbeit aussieht.“

Inzwischen weiß Dennis, dass er ab November seinen Job los ist. Nicht von der Firma, sondern aus der Zeitung haben er und seine 3.000 Delphi-KollegInnen das erfahren. „Wir sind zu teuer? So ein Quatsch“, sagt er langsam. Er verdient 30 Dollar die Stunde, andere kommen auf 65. Es ist der amerikanische Traum in der Lohntüte, eingepackt seit Ende der 40er-Jahre, von einer boomenden Autoindustrie, die sich widerstandslos den immer höheren Forderungen der Gewerkschaften gebeugt hat.

Als Dennis ein junger Mann war, wollte er unbedingt Arbeiter werden. Männer und Frauen wie er, mit Hauptschulabschluss, verdienten am Montageband bis zu 100.000 Dollar im Jahr. Sie konnten sich ein Haus und die Collegeausbildung für ihre Kinder leisten. Man war GM, wie man am Wochenende für die Michigan Admirals oder die Detroit Lions war. Man fuhr einen GMC Sonoma und zerkratzte schon mal einem Flinter den Autolack, wenn der in einem Toyota daherkam. In diesen Jahren war GM der größte US-Konzern. Überhaupt der größte in der Welt der Marktwirtschaft. Seit 1953 geisterte ein Zitat des GM-Präsidenten Charles Edwin Wilson durchs Land, den Präsident Eisenhower zum Verteidigungsminister ernannt hatte. Dem Kongress soll er gesagt haben: „Was gut für GM ist, ist gut für die USA.“

Gut für GM – und die Konkurrenten Ford und Chrysler – war es, den Forderungen der mächtigen United Autoworkers (UAW) nach üppigen Zulagen, Renten und Rundumkrankenversicherungen nachzugeben. In Flint hatte die Gewerkschaft Ende der 60er-Jahre 82.000 Mitglieder. Hier streikten sie 1937 und errangen den spektakulärsten Sieg in der Geschichte der US-Arbeiterbewegung. Claire McClinton ist persönlich stolz darauf. Schon ihr Vater schraubte an GM-Fließbändern. Die Gewerkschaft sorgte dafür, dass Afroamerikaner wie Menschen behandelt wurden, sagt Claire.

Heute wäre es gut für GM und die anderen US-Autohersteller, wenn der Staat sie von den aufgeblähten Sozialkosten befreite. Knapp die Hälfte der Dollars für ein verkauftes Auto geht in Rentenzahlungen für die Mitarbeitenden. Längst ist die UAW bescheiden geworden. Dennoch haben sie in Flint nur noch 11.000 Mitglieder. Mit der Gewerkschaft, so dämmert es allen, schwinden auch ihre Errungenschaften.

Vom Habenden zum Habenichts

Doch das gut gepolsterte US-Autoreich hat längst zu schrumpfen begonnen – seit Beginn der 70er-Jahre, als die ersten ausländischen Konkurrenten Honda und Toyota begannen, den Markt zu erobern. Seitdem verlieren die Big Three jährlich an Boden.

„Wir sind auf dem Weg von den Habenden zu den Habenichtsen“, sagt Claire McClinton trocken. Die 49-Jährige hat es eilig, gleich beginnt ihre Schicht. Nur ein schneller Tee im Drive-through-Restaurant, dann muss die gelernte Mechanikerin in die benachbarte GM-Metallfabrik, wo sie die Maschinen wartet. „Meine Eltern waren Arbeiter“, sagt sie. „wir waren sieben Kinder, alle gingen auf die höhere Schule, alle verdienen gut.“ Über ihre Tochter, eine Krankenschwester, kann sie das nicht mehr sagen. „Das sind die arbeitenden Armen.“

Der Schwiegersohn ist Friseur, die Tochter hat drei Kinder und zwei Jobs, „und trotzdem kommen sie nicht über die Runden. Sie haben keine Krankenversicherung. Wenn ich meinen Job verliere, kann ihnen keiner mehr helfen.“ Claire ist entschlossen zu kämpfen. Das sagt sie immer wieder, als wäre sie auf einer ihrer Agitationsveranstaltungen. Sie sagt, was jede Gewerkschafterin in einer solchen Lage sagt: „Wir haben General Motors und Delphi reich gemacht. Uns interessiert nicht, ob die Chinesen kommen. Wir möchten eine Zukunft für unsere Kinder.“ Und was ist, wenn die Firmen schließen? „Wenn Delphi und Buick gehen – na dann wird hier soziale Revolution gemacht, wie 1937. Denn die Bush-Regierung hat uns abgeschrieben“, sagt sie und steckt Tabellen, Listen und Infobroschüren ein, Unterlagen, die sie für eine Versammlung heute Abend braucht. „Warum sollte ich mich von den Managern erpressen lassen?“ Schließlich hätten sie GM sehenden Auges in den Ruin getrieben. „Ist nicht schon seit Jahren klar, dass die Konkurrenz uns überholt? Dass die Toyotas besser fahren? Die Chryslers besser aussehen? Die Nissans billiger sind?“

„Die von der Gewerkschaft reden nur, die sind viel zu schmusig mit den Konzernen“, findet Dennis Delling. Er trägt sein Haar lang und Solisticker auf der schwarzen Windjacke. Längst gehört er zu einer Rebellengruppe innerhalb der UAW. Als der Internationale Detroiter Autosalon kürzlich eröffnete, fuhren er und fünfzig andere Flinter auf eigene Faust nach Detroit, um vor der Messehalle zu demonstrieren. „Auch Amerikaner brauchen Jobs“ stand auf seinem Plakat. Und: „Keine Zugeständnisse“. 500 waren sie, aus ganz Michigan. Menschen, die viel zu verlieren haben im Kapitalismus made in USA.

Denn wie Dennis und Claire droht jenen, die ihren Job verlieren, der Absturz. Meldet ein Unternehmen in den USA Insolvenz an, verfallen die Rentenansprüche und Krankenversicherungen der Angestellten – auch derjenigen, die schon in Rente sind. Die Social Security bewahrt gerade so vor dem Verhungern. Wer vorsichtig ist, hat wenigstens eine Minimalrente, die 401(k), abgeschlossen. Wer keinen neuen Job findet, dessen Wohlstand löst sich binnen Monaten in ein Leben mit Schulden und Gläubigern auf.

Risiko Krankheit

Am bittersten ist dann der Verlust der Krankenversicherung – bei dreimal so hohen Arztrechnungen wie in Europa. Spektakuläre Firmenpleiten wie die von United Airlines, US Airways und den Stahlimperien National und Bethlehem haben das Elend, das folgt, in den letzten Jahren jedem Amerikaner vorgeführt.

„Ich war ganz schön blöd“, sagt Tom Wagner von sich selbst. Er sitzt in seinem GMC Pickup und raucht noch schnell eine, bevor er ranmuss in der Northern Press Plant, einem GM-Presswerk in Lansing, Michigan. Der 52-Jährige hat vor Jahren seine Grundrentenzahlung storniert, ein Sparbuch hat er nicht. In einigen Monaten wird sein Betrieb schließen.

„Ich suche mir eben anderswo einen Job, das machen alle, die noch malochen müssen.“ Tom Wagner ist zwar Gewerkschaftsmitglied, aber auf die gibt er nicht mehr viel. „Ich bin selbst erwachsen, ich brauche niemanden, der mir sagt, was ich tun soll. Ich pass schon auf mich auf“, meint er. Seine beiden Kinder haben studiert, der Sohn ist Personalchef, die Tochter Innenarchitektin, das Haus abbezahlt. Tom Wagner zuckt mit den Schultern.

„Das sind keine Patrioten, das ist die reine Gier“, ärgert sich Dennis Delling über die Tricksereien der Delphi-Manager. „Die sind nicht pleite, die fertigen doch weltweit in vierzig Ländern. Die wollen nur unsere Löhne und Rentenansprüche loswerden und unter neuem Namen weitermachen.“

Ob das tatsächlich die Pläne der Delphi-Finanzjongleure sind, weiß niemand genau. Dass im spacigen Delphi-Hauptquartier in Troy, Michigan, seit vergangenem Sommer Robert S. Miller in der Executive-Etage regiert, bedeutet für die Menschen in Michigan jedenfalls nichts Gutes. Miller, der Mann mit der Glatze, der bei Ford das Managen lernte, erarbeitete sich im letzten Jahrzehnt einen Ruf als knallharter Sanierer. Egal in welchem US-Konzern er auftaucht, kurze Zeit später wird entlassen, abgespeckt, umgeschichtet und sich der Altlasten entledigt. Was gerade bei Delphi passiert, Insolvenzverfahren trotz voller Auftragsbücher, ist daher ein Déjà-vu. Erst 2001 manövrierte Miller den Stahlriesen Bethlehem erfolgreich durch die Pleite – und befreite ihn, völlig legal, aller Lasten wie verwöhnter Arbeiter und deren altmodischer Renten- und Versorgungswünsche.

Dennis, der Elektriker, legt seine Soliplakette auf den Tisch, um zu erklären, was jetzt passieren soll. Er und die anderen werden nach Washington ziehen, um dort zu protestieren. „Es braucht eine Arbeiterrevolution, natürlich nicht gegen die Regierung, sondern gegen die Konzerne“, wettert er.

Bis dahin wird er wie so viele andere sein Haus verkaufen, bevor der Preis in den Keller fällt und ihn der laufende Kredit erwürgt. Er hat ausgerechnet, dass er im November, wenn sein Betrieb schließt, genau neunundzwanzigeinhalb Jahre für GM gearbeitet hat. Das sind sechs Monate zu wenig, um die volle Rente von 18.000 Dollar jährlich zu bekommen – vorausgesetzt, der Insolvenzverwalter würde ihm überhaupt eine zusprechen. Aber daran glaubt er ohnehin nicht, denn „der ist ein Bush-Mann“. Dennis Delling sagt, er habe nichts mehr zu verlieren. Er ist bereit zu marschieren.