Der Rollen-Auflöser

„Anfangs bin ich selbst durch die Kaufhäuser gezogen und hab die Teddys gekauft“

VON JÖRG ALBINSKY

Der orangefarbene Drehsessel ist eindeutig zu klein. Oder zu flach, je nachdem. Für den Panorama-Chef der Berlinale ist er jedenfalls nicht gemacht. Der 1,94 Meter große Mann versucht locker darauf zu sitzen. Mal stützt er den Arm auf die Lehne und legt das Kinn auf die Faust. Mal fischt er die Lesebrille aus der Jacketttasche und beugt sich nach vorn. Es hilft nicht, die langen Beine ragen wie bei einem schlaksigen Teenager in den Saal der Bundespressekonferenz, wo 200 Journalisten zum Podium starren.

Wieland Speck sitzt zwischen den Leitern der Film-Sektionen und lässt den Blick durch den Saal gleiten. Ja, er hat Lust auf das hier, das spürt man. Auf die Presse, die Leute aus dem Iran und Mexiko, die Diven, den ganzen organisierten Wahnsinn eben. Denn das Festival ist zu einem gut Teil auch seine Geschichte. Er hat den Teddy, den einzigen Queer-Filmpreis unter den großen, internationalen Festivals, mit initiiert. Speck kennt das Filmgeschäft von allen Seiten, hat Pleiten erlebt, eigene wie fremde. In dem kurzlebigen Geschäft ist wenig geblieben, wie es war. Seltsam, und er sitzt zum 20. Mal hier.

In den letzten Wochen hat er sich wieder die Nächte dafür um die Ohren geschlagen, hat Filme ausgewählt, Absagen geschrieben, hat Baldrian genommen. Und nun ist es geschafft. Er schwenkt den Drehsessel zu den Journalisten. „Es geht beim Teddy in diesem Jahr nicht mehr nur um schwul-lesbische Themen“, sagt er in die Runde. Es geht um Zwischenformen der Sexualität, die in allen Gesellschaften in das übliche Schwarz-Weiß gedrängt werden. Speck redet mit Nachdruck, als treibe er sich selbst voran. Er erzählt von einem österreichischen Dokumentarfilm über Babys, deren Geschlecht nicht ganz eindeutig ist und die so umoperiert werden, wie Ärzte und Eltern meinen, dass es zu sein hat.

Am Abend sitzt Speck in seiner Schöneberger Küche. „Ich hätte im Leben nicht gedacht, dass ich den Job so lange mache.“ Der 54-Jährige lächelt sibyllinisch, als er das sagt und zur Küchenzeile geht, um Wasser aufzusetzen. Die Küche: ein runder Holztisch, eine große Bar mit Hockern davor, 70er-Jahre-Lampen. An der Wand hängt ein schrillfarbenes Aquarell. Die Riesenwohnung ist gelebter Eklektizismus. In der WG haben viele gewohnt und Spuren hinterlassen, sie ist gewachsen über die Jahre.

Speck wohnte schon hier, als er 1982 bei der Berlinale anfing – in Manfred Salzgebers „Info-Schau“, dem heutigen Panorama. Gemeinsam entdeckten sie Filme jenseits des Mainstreams, solche für die neuen Arthouse-Kinos, und hievten sie ins Programm. Viele der Low-Budget-Produktionen hätten keine Chance im Wettbewerb gehabt, von anderen Festivals ganz zu schweigen. Bei Salzgeber und Speck finden Außenseiter ein Podium, schräge und wilde Filme aus allen möglichen Ländern. Mitte der 80er ist die Zeit reif für einen schwul-lesbischen Filmpreis – und die beiden wagen es.

„Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht mehr genau, weshalb das ausgerechnet ein Teddy wurde“, sagt Speck, während er aus dem Nachbarzimmer eine der Trophäen der Anfangszeit holt. Der Ur-Teddy ist ein Plüschtier von ergreifender Schlichtheit, nicht größer als ein Schlüsselanhänger. Speck schaut ihn an wie ein selbst erlegtes Großwild. „In den ersten Jahren bin ich selber durch die Spielwarenabteilungen der Kaufhäuser gezogen und hab die Teddys gekauft.“ Er dreht das Stofftier in seinen Händen. „Na ja, und die ersten Preisträger Pedro Almodóvar und Gus Van Sant haben ihre Teddys dann in einem Päckchen zugeschickt bekommen. Es fing wirklich bescheiden an.“ Und dann lacht er aus vollem Hals.

Scheint es nur so oder kommen viele, die was bewegen wollen, aus der Provinz? Speck stammt aus dem Raum Freiburg, keiner kruzifixversessenen, aber doch beamtisch-bürgerlichen Gegend. An der Kneipe im Dorf hängt ein Schaukasten, und wenn Kinotag ist, wird im Dorfsaal die Leinwand runtergekurbelt, werden Stühle aufgestellt und Wieland versinkt in der fremden Welt jenseits des Bierausschanks.

Doch die Unruhe der späten 60er hat die Gegend längst erfasst. Auch Wielands Waldorfschule. „Wir waren die erste bekiffte Klasse. Die vor uns waren bereits politisch, wir waren bekifft und politisch.“ Seine Fingernägel färbt er blau, die Haare sind abwechselnd rot, blond und schwarz. Er trägt Make-up, knallenge Hosen und selbst genähte Hemden mit Pumpärmeln. Zu viel für Waldorf – er fliegt von der Schule.

1972 ist es endgültig genug. Er ist jung, er ist schwul, er muss raus. „Meine Idee war“, sagt er und zündet sich eine Zigarette an, „Sachen zu entwerfen, die alle irgendwie begeistern. Alle Bahnen, die die Leute gängeln, sollten aufgebrochen und ersetzt werden durch die Eigenerfindung des Individuums, also die höchste Form von Individualismus.“ Das kann er nicht in Baden-Württemberg. Er geht nach Berlin.

Für sich selbst erfindet er einen androgynen Typus. Er will das Männerbild auflösen, das Rollendenken in der Hoffnung, das eigene Schwulsein dadurch im Meer der Möglichkeiten aufgehen zu sehen. Es geht gegen das alleinige Lebensmodell, gegen den Penetrationszwang in der Sexualität, wie Speck es nennt. Dafür wird heftig gestritten, auch innerhalb der Szene. „Rosa von Praunheim etwa wollte der Heterowelt zeigen, dass Schwule nicht so sind wie die typische Tunte mit der roten Hose. Und ich war gerade super bunt, schrill und wollte genau die Sachen machen.“

Mit Freunden beginnt der filmverrückte Mittzwanziger Kurzfilme zu drehen, „so verrückte, ausgeklügelte, erotische Kunstsachen“. Speck rückt mit seinem Küchenstuhl zur Seite und zeigt begeistert auf die Wand hinter sich. „Hier stand die Couch aus „Bei uns zuhaus‘“, sagt er und fixiert für einen Moment die weiße Wand. In dem Kurzfilm sitzen junge Männer lachend, diskutierend und rauchend auf dem Sofa, während zwei von ihnen, wie selbstverständlich, auf dem Sessel daneben in Sex versinken. Collageartig sind die Bilder aneinander gereiht, die beiden im Sessel blau verfremdet und nur zu erahnen.

Dutzende solcher Filme entstehen – in der Küche wie andernorts. Wieland Speck schreibt die Drehbücher, führt Regie, filmt und schneidet selbst. Es sind Kennenlern-Geschichten, Befreiungsgeschichten, erotische Bildfolgen, die es so bisher nicht zu sehen gab. Man sieht ihnen an, dass kein Geld da war. Man sieht aber auch die neuen Räume, die sie erobern, die Grenzen, die sie einreißen oder verschieben wollen.

Speck beschließt einen Filmverleih zu gründen. Er ist inzwischen Off-Leiter im „Tali“, dem heutigen Kino „Moviemento“ – der ersten schwulen Bühne der Stadt. Sie wird zu einer Institution – bis die Rocky Horror Picture Show das Haus überflutet und der Geheimtipp in den Kommerzstrudel gerissen wird. „An Rocky Horror ging das Kino zugrunde, an dem plötzlichen Geldregen. Die Bude war permanent voll, das ständige Wasser und der Reis haben das Kino ruiniert, und als ich den Verleih aufmachen wollte, war das Geld aus der Kasse weg.“

Der Verleih ist geplatzt, die Schauspielerei gescheitert und nur mit Homevideos kommt er auch nicht weiter. Speck hat die Nase voll. Für zwei Jahre verschwindet er in die USA und studiert Film am San Francisco Art Institute. Und tatsächlich, es geht jetzt vorwärts. Als Manfred Salzgeber 1981 einen 16-mm-Streifen von ihm ins Berlinale-Programm nimmt, wechselt er kurz darauf ganz zu dem Festival. Vier Jahre später wird er mit „Westler“ den filmischen Durchbruch schaffen. Selbst das ZDF nimmt den Film ins Programm und der deutsche Fernsehzuschauer sieht vielleicht erstmals zwei schwule Filmhelden, die nicht nur Opfer sind oder schrille Witzfigur und die auch nicht am Ende sterben müssen.

Es ist spät geworden in der Küche. Wieland Speck räumt den Tisch ab, trägt das Geschirr zur Spüle und bleibt dann stehen. „Viele glauben ja, ein schwul-lesbischer Filmpreis sei heutzutage obsolet. Wissen Sie“, sagt er schließlich, „Minderheiten brauchen immer so eine Art Schutzprogramm. Eine echte Emanzipation wird es nie geben. Da muss man sich nichts vormachen.“