Der Sog der Risse

Übermenschengroße Kahlköpfe, im Kampf mit dem Wasser und der Masse: Das Berliner Kupferstichkabinett zeigt die Holzschnitte des chinesischen Künstlers Fang Lijun, der einst als Mustervertreter eines neuen Zynischen Realismus galt, der sich inzwischen aber selbst als Existenzialist begreift

Man hört hier fast die Geräusche der Sägen und Beitel, das Splittern und Ritzen

von SUSANNE MESSMER

Es scheint, als explodiere der kleine Ausstellungsraum im Berliner Kupferstichkabinett unter der Wucht der riesigen Holzschnitte Fang Lijuns. Übermenschengroße Kahlköpfe allüberall, die meisten im Kampf mit dem Wasser, ein paar im Kampf mit der Masse. Es ist unglaublich, wie viel Energie, wie viel Wucht und Verzweiflung in so einen winzigen Raum passen.

Fang Lijun ist einer der bekanntesten Maler aus China, der seit seinem internationalen Durchbruch 1993 in Venedig auf keiner Biennale oder sonstigen Großausstellung fehlen darf. Er wurde damals als Mustervertreter eines neuen Zynischen Realismus eingeführt und gefeiert – einem Label, das sich auch und vor allem im Westen verkaufte, wo man sich immer freut, wenn es ein wenig dissidenter wird. In Abgrenzung zu den positiven Helden des lang propagierten Sozialistischen Realismus zeigte Fang Lijun mit seinen glatzköpfigen, oft grellfarbigen Männerköpfen ein besonderes Faible für Schelmen und Schlingel, Tagediebe und Taugenichtse. Diese Antihelden ließ er die Blicke der Arbeiter und Bauern auf den bekannten Plakaten nachäffen – nur dass sie ins Nichts starrten und man oft nicht entscheiden konnte, ob sie lachten oder weinten, ob ihre Gesichter Langeweile ausdrücken oder Trauer, Unzufriedenheit oder Skepsis, ob sie vor Angst verzerrt waren oder vor Spott.

All das war sofort nachvollziehbar. Denn der heute 42-Jährige, der zunächst eine Ausbildung in Porzellanmalerei und Holzschnitttechnik abgeschlossen hatte, bevor er zum Kunststudium nach Peking kam, war beim Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens Mitte zwanzig. Wie viele seiner Kollegen wurden auch seine Arbeiten konfisziert, und wie fast alle seiner resignierten Generation hatte auch er noch jahrelang das Gefühl, in einem Vakuum zu leben.

Und jetzt die Holzschnitte. Noch immer dreht sich bei Fang Lijun alles um die kahlen Köpfe. Aber irgendetwas ist anders. Während man seine Malerei aus den Neunzigerjahren vor allem mit spiegelglatten Oberflächen assoziiert, hört man hier, bei seinen sehr körperlichen Holzschnitten, fast die Geräusche der Sägen und der Beitel, hört das Kratzen und Splittern und Ritzen während ihrer Herstellung. Das Gewachsene des Holzes wurde zerstört, dem Material brachial Gewalt angetan. Und dachte man bei Fang Lijuns Malerei manchmal, nur mit allergrößter Anstrengung sei zu verhindern, dass der Blick wegflutscht und abperlt, hat man nun den Eindruck, man bleibt hängen in den vehementen Schnitten, den rissigen Rändern, den Narben und den Spalten.

Je länger man hängen bleibt, desto stärker schaut man auf Nuancen, desto genauer inspiziert man jede winzige Besonderheit, die den einen Kahlkopf vom anderen unterscheidet. Ein sehr eigenes Paradox entsteht: Diese uniformen Figuren ähneln einander wie Eier und drohen zwischen anderen Köpfen oder in den Wellen unterzugehen, und doch hält man sich plötzlich an ihrer individuellen Mimik fest und versucht, sich diese genauso fest einzuprägen, wie sich das schwere Werkzeug des Künstlers ins Holz geprägt hat.

Man könnte die Rückkehr des Zynikers zum Existenziellen, wie er es selbst formuliert, mit seinen Bezügen auf den europäischen, den expressionistischen Holzschnitt belegen; etwa mit der Rezeption der sozialkritischen Holzschnitte von Käthe Kollwitz in China, die in den Zwanzigerjahren des letzten Jahrhunderts einsetzte. Man könnte auch behaupten, Fang Lijun habe sich mit China ausgesöhnt, indem er mit der Reihung monumentaler hochformatiger Rollbahnen an die chinesische Tuschemalerei erinnert. Indem er sich auf die Puzzletechnik eines Edvard Munch beruft, insbesondere aber auch auf eine Tradition des Holzschnitts, wie sie in China schon im 14. Jahrhundert nach Christus benutzt wurde, wobei die einzelnen Teile des zersägten Farbstocks mit unterschiedlichen Abstufungen derselben Farbe koloriert werden.

Man könnte aber auch einfach sagen, dass es an der schieren Materialität liegt. Sie ist es, die den Betrachter nicht nur machtvoll anspringt, sondern plötzlich auch dazu zwingt, gründlicher hinzusehen.

Bis 17. April, Kupferstichkabinett in Berlin, Katalog 7 €