Karikaturenstreit eskaliert in Afghanistan

Trotz vielfacher Aufrufe zur Gewaltlosigkeit sind bisher zehn afghanische Demonstranten getötet worden

Die Proteste in Afghanistansind Wasser auf die Mühlen der Taliban

BERLIN taz ■ In Afghanistan spielen sich inzwischen ähnliche Szenen ab wie in Damaskus, Beirut oder Kairo. Am Sonntag hatte der afghanische Staatspräsident Hamid Karsai die Muslime der Welt zur Vergebung aufgerufen und das oberste Gremium der islamischen Rechtsgelehrten, der Rat der Ulema, zu Gewaltlosigkeit gemahnt. Doch im eigenen Land wurden sie nicht von allen erhört: In 8 von 34 Provinzen kam es zu Protesten, bei denen bisher zehn Demonstranten getötet wurden.

Die Proteste in Afghanistan sind vermutlich Wasser auf die Mühlen der Taliban. Deren Sprecher Qari Yussif Ahmadi rief zum heiligen Krieg auf, insbesondere gegen dänische Soldaten.

Die Fundamentalisten haben seit einem Jahr ihre Aktivitäten in Afghanistan zunehmend ausgedehnt und just Ende vergangener Woche mehrere Angriffe durchgeführt. Am Wochenende hatte es bei Kämpfen zwischen Koalitionstruppen und Taliban in den südlichen Provinzen Helmand und Kandahar 35 Tote gegeben, davon angeblich 22 Taliban; ein Bombenanschlag auf ein Polizeifahrzeug in Kandahar-Stadt forderte zwei Tote; am Montag war der Gouverneur der nördlichen Provinz Balch, Mohammed Atta, knapp einem Selbstmordanschlag entgangen; Atta hatte sich durch die Bekämpfung der Taliban hervorgetan. Am Dienstag waren ein türkischer Ingenieur, ein Inder und ihr afghanischer Fahrer auf der Straße zwischen Herat und Kandahar einem Bombenanschlag zum Opfer gefallen.

Die Proteste in Agfhanistan gegen die Karikaturen zeigen mindestens zwei Dinge: Erstens sind die Zeiten vorbei, in denen man in Afghanistan nicht mitbekam, was im Rest der Welt geschieht. Fernsehen und, in geringerem Maße, auch Internet haben das Land an die Welt angebunden. Zweitens: Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass sämtliche Demonstranten Taliban-Anhänger oder auch nur -Sympathisanten sind, verweisen die Proteste doch auf die zwiespältigen Gefühle vieler Afghanen gegenüber den „ungläubigen“ Fremden, seien sie nun Helfer oder Besatzer. 15 Jahre des heiligen Krieges gegen die gottlosen Kommunisten sowie mehrere Jahre Taliban-Regime haben den Islam als Bezugspunkt aufgewertet; ein Bezugspunkt, der umso wichtiger ist, als er praktisch das einzige einende Band zwischen den verschiedenen Ethnien und Stämmen Afghanistans darstellt. Speziell im Falle Afghanistan mögen die Proteste nicht nur Ausdruck der Indignation über die Karikaturen sein, sie mögen außerdem einen willkommenen Anlass bieten, gegen die „Verwestlichung“ zu demonstrieren, die insbesondere in der Hauptstadt Kabul in Gestalt zahlreicher Ausländer Einzug gehalten hat.ANTJE BAUER