Brüder und Betrüger

Die prekären Verhältnisse von Freiheit und Abhängigkeit: Die Familie und der Sport sind bevorzugte Kampfplätze in der „Perspektive deutsches Kino“. Formale Strenge sorgt zudem für schöne Bilder

von DIETMAR KAMMERER

Erst vor wenigen Wochen haben zwei große Magazine zeitgleich mit einer Titelgeschichte zum Thema „Geschwister“ aufgemacht, nach dem Motto: Hassliebe oder ewige Konkurrenz – was sind das für Beziehungen zu Leuten, mit denen wir ein Leben lang auskommen müssen? Manche der Beiträge der „Perspektive Deutsches Kino“ in diesem Jahr können als Antwort auf diese Frage gelesen werden.

So wird in „Hochhaus“ von Nikias Chryssos der zwölfjährige Daniel (Paul Preuss) in einer Plattensiedlung systematisch von seinem sadistischen älteren Bruder terrorisiert, der ihn obendrein zum Betteln schickt. Zuflucht sucht er ausgerechnet bei einem todessehnsüchtigen Junkie (David Scheller) mit Country-Faible, bloß kann der ihm auch nicht mehr bieten als weniger Schläge und eine kaputte Zukunft. Aussichten gibt es keine, vom Hochhausdach blickt man nur auf andere Hochhausdächer. Wenigstens ist das Elend wunderschön fotografiert.

Auch in „Vier Fenster“ von Christian Moris Müller stecken diese Leute, die wir uns nicht ausgesucht haben und die sich Familie nennen, die engen Grenzen der eigenen Unfreiheit ab. Vater, Mutter, zwei erwachsene Kinder und kaum Luft zum Atmen dazwischen. Die Konstellation ist so dicht geschnürt, dass die unausgesprochene Inzest-Geschichte zwischen Tochter und Vater nur mehr wie eine notwendige Konsequenz erscheint. Der Sohn sucht in Pornoläden nach schnellem Sex mit anderen Männern, die Mutter besäuft sich und fürchtet das Älterwerden. Alle sind sexuell unterzuckert. Müller hat sich für lange Planeinstellungen ohne Schnitt (Kamera: Jürgen Jürges) entschieden, um „jeder der Figuren Raum zu geben, sich im Zuschauer auszubreiten“. Schön wäre gewesen, wenn auch das Drehbuch seinen Figuren mehr Raum gelassen hätte. Am Ende bleibt ein Hoffnungsfunken und der Schritt ins Freie, als die beiden Geschwister endlich miteinander reden.

Geschwister filmen

Zwei weitere Filme sind entstanden, weil Geschwisterpaare hinter der Kamera zusammenkamen. „Neun Szenen“ ist ein gemeinsames Drehbuch von Dietrich und Anna Brüggemann, er hat Regie geführt und sie die Hauptrolle übernommen. Äußerlich kommt „Neun Szenen“ ähnlich formal-streng daher wie „Vier Fenster“, ist aber wesentlich optimistischer, was die Möglichkeit angeht, menschlich miteinander auszukommen. Hier ist der Opa abenteuerlustiger als der Enkel, der sich nicht traut, seine Schul-Flamme anzusprechen. Die Tochter eines herrschsüchtigen Cholerikers muss in ihrem Aufbegehren erkennen, dass die unwahrscheinlichsten Ausflüchte manchmal der Wahrheit entsprechen können. Eine überverständnisvolle Mutter gibt der Freundin ihres Sohnes als wichtigsten Ratschlag: „Niemals festhalten!“ auf den Weg und ist sauer, als sie tatsächlich von dannen zieht. Die prekären Verhältnisse von Freiheit und Abhängigkeit, die der Film ausbalanciert, spiegeln sich in seinem Aufbau wider: Alle Szenen sind in jeweils einer Einstellung entstanden, miteinander verzahnt und könnten dennoch als Episoden für sich stehen.

Sport, versprochen

„Warum halb vier?“ (Buch von Lars und Axel Pape) ist einer der Filme zum Thema Fußball, die uns Dieter Kosslick für diese Berlinale versprochen hat, und interessiert sich vor allem für die Geschichten jenseits der Rasenfläche. Darin erzählt unter anderem Joachim Król, wann ein Mann weinen darf.

Auch vom Sport, aber in gänzlich anderer Sichtweise, handelt „Katharina Bullin – und ich dachte, ich wär die Größte“. Der Dokumentarfilm von Marcus Welsch führt anhand des Porträts einer ehemaligen DDR-Spitzenathletin vor Augen, wie skrupellos der Honecker-Staat die Unwissenheit und Begeisterung seiner „Diplomaten in Trainingsanzügen“ ausnutzte, um in der Welt als Vorzeigenation dazustehen.

Mit der Volleyball-Nationalmannschaft gewinnt Katharina Bullin 1980 in Moskau olympisches Silber, wird dann aber fallengelassen, weil die körperlichen Schäden, die sadistische Trainingsmethoden und unzureichende Behandlungen verursacht haben, so groß geworden sind, dass sie nicht mehr aufs Spielfeld kann. Nach der Wende erfährt sie aus den Akten, dass ihre Ärzte bleibende Schäden in Kauf genommen haben. Doping wurde heimlich ins Essen gemischt, kaum eine der jungen Frauen fragte nach, sagt Katharina Bullin heute, nicht einmal, als ihnen Barthaare wuchsen. Heute ist sie berufsunfähig, hat zahllose Operationen hinter sich und einen Prozess gegen ihre ehemaligen Trainer und Betreuer verloren. Weil sie volljährig war damals und den Operationen zugestimmt hätte, wie es heißt.

Noch mehr Lebenslügen

Mehr Glück haben die Figuren des Perspektive-Eröffnungsfilms: ihre Lebenslügen werden rechtzeitig aufgedeckt. Irgendwo zwischen Kusturica und Fellinis „Schiff der Träume“ erzählt Zsolt Bács in „Esperanza“ die Geschichte einer Schiffspassage in der Silvesternacht. Ein ausrangierter Vergnügungsdampfer bietet die Kulisse, vor der ein Häufchen verlorener Seelen seine falschen Maskeraden ausbreiten darf, bevor sie sämtlich durch die Ereignisse der Nacht geläutert werden. Scheinbar orientierungslos durch den Nebel navigierend, hat die Schiffscrew anderes im Sinn, als den Gästen bloß den Transport von einem Ufer zum anderen zu bieten.

Der Regisseur Bács selbst hat die Rolle des Schiffskochs übernommen. Der ist immerfort auf der Suche nach der einen Zutat, die seinen ausgefallenen Vorspeisen, Desserts und Hauptgängen die richtige Würze gibt, um aus einem guten Mahl ein einmaliges Erlebnis zu machen. Seinem Regiedebüt mag vielleicht diese unvergleichliche Ingredienz fehlen, die es erlaubt hätte, sich von seinen offensichtlichen Vorbildern abzusetzen. Unterm Strich bleibt aber ein enorm unterhaltsames und mit Anna Thalbach, Mavie Hörbiger, Boris Aljinovic und anderen zudem prominent besetztes, skurriles Possenstück.

Die Perspektive Deutsches Kino startet am Freitag, 16 Uhr, in den CinemaxX-Kinos, Potsdamer Straße 5