Extreme Farben

Traue deinen Augen nicht: In „Strange Circus“ (Forum) von Sion Sono sind die Träume realer als die Wirklichkeit

In einem der Träume, aus denen Mitsuko jede Nacht zitternd erwacht, liegt sie in einer Zirkusmanege unter einer Guillotine, um sie herum lodernde Flammen und seltsam maskierte Gestalten. In einem anderen Traum steht das Mädchen vor einem Spiegel in einem Korridor voller Blut. In „Strange Circus“, dem neuen Film des japanischen Regisseurs Sion Sono im Forum, sind Träume realer als die Wirklichkeit. Mit geschlossenen Augen hört Mitsuko, von der die erste Hälfte des Films erzählt, das infernalische Knirschen eines sich quälend langsam drehenden Karussels.

Den Träumen vorausgegangen ist eine nicht weniger quälende Wirklichkeit. Seit Mitsuko als kleines Mädchen ihre Eltern beim Sex beobachtet hat, zwingt der Vater sie, ihm aus einem Cellokoffer heraus zuzuschauen, und er vergewaltigt sie.

Von der Musik – Jahrmarktlieder, sphärische Elektronikcollagen und Bach – über die in extremen Weiß- und Rottönen kontrastierende Farbgebung bis hin zu den an Twin Peaks erinnernden Traumsequenzen: „Strange Circus“ ist gleichermaßen infernalischer Horrortrip und einfühlsames Psychogramm, das niemals cool auf Distanz zu seinen Figuren geht.

Die zweite Hälfte des Films handelt von der Autorin Taeko, einer fragilen jungen Frau, in der immer wieder subtile Momente extremer Grausamkeit aufblitzen. Die Story kreist um die Frage, ob sie und Mitsuko möglicherweise dieselbe Person sind. Denn Taeko beendet gerade ihren neuen Roman, der die Geschichte von Mitsuko erzählt. Als sie von ihrem Freund Robo gefragt wird, ob das Buch tatsächlich Fiktion sei, stürzt sie in eine Identitätskrise. Diese nimmt bedrohliche Formen an, als Taeko herausfindet, dass Robo nicht der ist, der er zu sein scheint. Plötzlich kommt eine weitere Lesart der Ereignisse ins Spiel, die alles bisher Geschehene auf den Kopf stellt …

„Strange Circus“ durchkreuzt – wie „Adaption“ oder „Vergiss mein nicht“ – permanent die Erwartungen des Zuschauers. Der Film spielt mögliche Erklärungen gegeneinander aus, um immer dann, wenn man glaubt, die endgültige Version vor Augen zu haben, eine neue Variante aus dem Hut zu zaubern. Dieses Verwirrspiel ist jedoch nie Selbstzweck, sondern dient der Darstellung komplexer Innenwelten, in der jede Figur ihren eigenen Begriff von Wirklichkeit hat.

ANDREAS RESCH

„Strange Circus“, Regie: Sion Sono. Mit: Masumi Miyazaki, Rie Kuwana, Issei Ishida u. a. Japan 2005, 108 Min. 11. 2., 19.00 Uhr, Delphi Filmpalast; 11. 2., 22.30 Uhr, Arsenal 1; 13. 2., 12.30 Uhr, CinemaxX