Eine Lieblingsheldin für jeden

Einfach zuhören: Die „Kinder von Golzow“, die längste Chronik der Filmgeschichte, steuert mit „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ (Forum) den Abschied an

Die „Kinder von Golzow“ sind recht beeindruckend. Mit 45 Jahren ist die aus mittlerweile 19 Filmen bestehende Langzeitdokumentation von Barbara und Winfried Junge die älteste Chronik der Filmgeschichte und dürfte mit insgesamt etwa 33 Stunden auch eine der längsten sein. Angefangen hatte alles 1961, im Jahr des Mauerbaus, als die Junges die Kinder aus Golzow, einem kleinen Ort im Oderbruch, bei der Einschulung beobachteten.

Ziel der zunächst auf zehn Jahre geplanten Dokumentation war „das Portrait einer in einer sozialistischen Gesellschaft aufwachsenden Generation“, so der Ideengeber dieses Projekts Karl Gass. Diese Generation werde sicher ganz anders sein, wird man sich gedacht haben.

Die ersten Teile der Chronik waren lediglich 14 Minuten lang. Später uferte alles aus. „Lebensläufe“ von 1980 war mit 256 Minuten der erste richtig lange Golzow-Film und wurde 1995 von der Deutschen Kinemathek in die Liste der 100 wichtigsten deutschsprachigen Filme aller Zeiten aufgenommen.

So ging’s dann weiter. Eigentlich superinteressant, aber irgendwie kam ich nie dazu, mir einen Golzowfilm anzuschauen; vielleicht war’s die Länge, die mich abschreckte, vielleicht auch die Vorstellung einer braven Ostigkeit und außerdem das Gefühl, da irgendwie nicht mehr reinkommen zu können, wo man doch die ersten zwanzig Stunden schon verpasst hatte.

Das war ein Irrtum, wie sich dann endlich bei der schönen Folge „Und wenn sie nicht gestorben sind …“ herausstellte. Zunächst mal so allgemein: Es ist sehr beruhigend, angenehm und auch lehrreich, viereinhalb Stunden im Kino zu sitzen und einfachen Menschen zuzuhören, wie sie von sich erzählen; den Lauf der Zeit von da bis hier zu beobachten, die Veränderung der gesellschaftlichen, Produktions- und Reproduktionsverhältnisse zu verfolgen. Und sich dabei auch an sich selbst zu erinnern.

Fünf Biografien werden mehr oder weniger chronologisch erzählt. Die ersten Jahre bleiben in Schwarzweiß. Es gibt vor allem Originalton, und die Filmmusik ist, anders als heute bis zum Kotzen üblich, zurückhaltend. Es geht nicht, wie im Spielfilm, um das Außergewöhnliche, Interessante, Beispielgebende der Helden, sondern darum, wie Leute unter und mit den Verhältnissen, in denen sie leben, zurechtkommen. Die Helden des Alltags – Jürgen, Christian, Ilona, Petra und Winfried – bestimmen diese Verhältnisse nicht, sie unterliegen ihnen aber auch nicht. Nach 1989 müssen sie sich erst mal wieder zurechtfinden.

„Die ‚Kinder von Golzow‘ sind zeitgeschichtliche Dokumente, an denen sich epochale Ereignisse Europas nachvollziehen lassen und die biografisch aufzeigen, welche Flexibilität von Menschen dieser Generation gefordert wird, um nicht an der Vergangenheit zu zerbrechen und die Zukunft meistern zu können“, heißt es im Programmheft. Die einzelnen Biografien beanspruchten schon immer, exemplarisch zu sein. Die Teilnahme an dem Filmprojekt, die Antworten auf die Fragen von Winfried Junge, dessen eigenes Leben außen vor bleibt, sollten der Gesellschaft etwas geben.

Einer der Golzowfilme hieß denn auch: „Da habt ihr mein Leben“ (1997). Die Elektronikfacharbeiterin und spätere Jungfunktionärin Ilona hatte sich zu diesem Unternehmen immer wieder überreden lassen. Oft sagt sie vor der Kamera, wie furchtbar sie es findet, vor der Kamera zu stehen. In den Achtzigerjahren findet sie endlich den Mut, sich dem Unternehmen zu verweigern. In ihrer letzten Einstellung sagt Junge: „Das ist vielleicht die letzte Einstellung, die wir von Ihnen machen. Wie finden Sie denn das?“ – „Schön!“ Ilona ist meine Lieblingsheldin. Die Schule, in der die Golzowfilme begannen, ist heute ein Museum über die „Kinder von Golzow“.

DETLEF KUHLBRODT

„Und wenn sie nicht gestorben sind … Die Kinder von Golzow – das Ende einer unendlichen Geschichte“. 2006, 278 Min. 11. 2., 13.15 Uhr, CineStar 8; 12. 2., 12.15 CinemaxX 3