Mit anderen Augen

Im Konflikt um die Mohammed-Karikaturen hält der Westen das islamische Bilderverbot für hoffnungslos rückständig – dabei ist es ursprünglich ein Instrument der Aufklärung

Die islamische Aufklärung ist historisch bedeutend älter, anderen Inhalts – und ohne sie ist die westlich-christliche nicht denkbar

VON CHRISTIAN SCHNEIDER

„Du sollst dir kein Bildnis machen.“ Das zweite Gebot des Dekalogs hat derzeit Konjunktur. Weil es Bilder gibt, die die Welt erschüttern. Ohne dass wir im Westen wirklich verstehen, warum die läppischen Mohammed- Karikaturen einen so gewaltigen Sturm der Empörung auslösen. Denn für uns hat das alttestamentarische Bilderverbot längst seine Verbindlichkeit verloren. Dabei ist es der Punkt, an dem sich Christentum, Judentum und Islam berühren.

Das Bilderverbot ist eine Frühform der Aufklärung: Gegen den heidnisch-polytheistischen Konkretismus der Götzenverehrung setzt es die klare Linie des einen Gottes, der nicht darstellbar ist, weil er eine andere Qualität des Seins repräsentiert, als sie den Menschen zusteht. Das Bilderverbot richtet sich nicht auf Bilder schlechthin, sondern gegen das Kultbild. Es verwaltet die grundlegende Differenz zwischen Weltlichem und Göttlichem, indem es darauf beharrt, dass die göttliche Macht nicht repräsentiert werden kann, ohne sie zu verweltlichen.

Was wir in unserer gleichermaßen transzendenzlosen wie überbilderten Welt längst vergessen haben, ist diese machtkritische Dimension des Bilderverbots. Weltliches und Geistliches auseinander zu halten ist die Grundformel und der Zentralgehalt jeder Aufklärung: Kein weltlicher Herrscher soll sich auf göttliche Ursprünge berufen können. Der Religionswissenschaftler Jakob Taubes hat gezeigt, dass die Gewaltentrennung zwischen weltlich und geistlich sich gegen die Theorie des Souveräns als Stellvertreter einer unsterblichen Macht richtet. Das Bilderverbot als Wächter über die Grenzlinie der beiden Reiche richtet sich insofern ursprünglich gegen die Aufladung des Politischen mit Theologischem. Jedenfalls im Geist der westlichen Aufklärung. Hier ist die Trennung zwischen weltlich und geistlich, Glauben und Wissen, Kirche und Staat so gründlich gelungen, dass selbst Gott Gegenstand nicht nur der Kritik, sondern auch von Witz, Satire, Ironie werden konnte. Die feste Grenzlinie zwischen den beiden Reichen öffnet einen Spielraum für den distanzierten, manchmal sogar geschmacklosen Umgang mit Glaubensgütern. Ist diese Trennung nicht vollzogen, wird alles, was sich in einer dieser Formen auf Glaubensinhalte richtet, automatisch zu einem identitären Problem, zum Angriff auf die Gesamtverfassung des Lebens. Nun ist es keineswegs so, dass es nur im Westen „Aufklärung“ gegeben hat. Die islamische Aufklärung ist historisch bedeutend älter, anderen Inhalts – und ohne sie die westlich-christliche nicht denkbar. Die gröbste Verzerrung der Sachlage wäre insofern, zwischen den beiden Kulturen einen holzschnittartigen Gegensatz von „aufgeklärt“ und „unmündig“ zu konstruieren. Vielmehr ist festzuhalten, dass im Konflikt um die Mohammed-Karikaturen verschiedene, religiös geprägte Identitätsmodelle aufeinander prallen. Eben weil in der islamischen Welt die Trennung von Religion und Politik kollektiv und individuell nicht in gleicher Weise wie im Westen vollzogen worden ist, kann die Verletzung eines religiös begründeten Verbots derart hohe politische Wellen schlagen.

Zurzeit üben sich unsere Politiker darin, zu beteuern, dass es sich bei den Konflikten zwischen dem Westen und dem Islam keineswegs um einen Kampf der Kulturen handele. Die Beteuerung erinnert indes allzu sehr an Pfeifen im Wald. Islam und Christentum haben sich über 1.400 Jahre gegenseitig als „den Anderen“ betrachtet. Der Islam war zum einen, wie Huntington festgestellt hat, „die einzige Kultur, die das Überleben des Westens hat fraglich erscheinen lassen“. Und er ist zum anderen, jenseits des fundamentalen Unterschieds der Trennung bzw. Nichttrennung von Religion und Politik, dem Christentum so ähnlich, dass allein daraus Konfliktpotenzial erwachsen muss. Beide sind monotheistisch, beide teilen dualistisch die Welt in „Wir“ und „Sie“, beide sind universalistisch und missionarisch. Islam und Christentum teilen eine teleologische Auffassung der Geschichte ebenso wie den Glauben an die Überlegenheit ihrer Werte. Gerade diese Ähnlichkeit macht die eklatanten Unterschiede in der Bewertung von Individuum, Gemeinschaft und ihrem Zusammenhang so prekär und die fundamentale Differenz in der Stellung der Religion im politischen Leben so konfliktuös. Diese brisante Mischung aus Ähnlichkeit und Fremdheit kann sich am Konflikt um das Bilderverbot entzünden, weil hier der Kern der Differenz berührt ist: die Differenz einer Kultur, die sich als gottgeleitet versteht zu einer, die sie als gottlos ansieht. Huntingtons Bild des Islam als einer „Kultur, deren Menschen von der Überlegenheit ihrer Kultur überzeugt und von der Unterlegenheit ihrer Macht besessen sind“, ist durchaus realistisch. Zu diesem, uns nur allzu vertrauten Überlegenheitsgefühl gehört auch der Stolz auf das über Jahrhunderte herausgearbeitete kulturspezifische Verhältnis von Religion und Bildkunst, von Transzendenz und Ästhetik.

Das Bildprogramm der westlichen Moderne ist eng mit der Idee des „Durchsichtigmachens“ verschwistert. Nachdem die Fessel der Naturnachahmung abgeworfen war, hat die Bildkunst einen unverkennbar analytischen, aufdeckenden Zug: Zeigen, was hinter der Fassade steckt, Entstellung zur Realität. Ironische Brechung und szenische Übertreibung sind spätestens seit dem Expressionismus deren legitime ästhetische Mittel. Die Karikatur ist ein Kind dieser Tradition. Sie ist analytisch, provokativ, folgt dem Prinzip der Darstellung durch Entstellung. Das ist für einen bildfreundlichen Zivilisationstyp eine Selbstverständlichkeit, für eine ikonoklastische Kultur jedoch eine Zumutung. Nicht nur, wenn es um die ironisch verzerrende Darstellung ihr heiliger Dinge geht. Insofern resümiert der aktuelle Konflikt um die – nach westlichem Empfinden nebensächliche – Bedeutung von Bildern die bei aller Verwandtschaft doch immer konkurrente Geschichte zweier Kulturen.

Im Bilderverbot trennten sich einst die Welten. Ob man sich das Höchste nur vorstellen oder sich ein Bild davon schaffen dürfe: das ist kein Kinderstreit, sondern eine zentrale Frage der Welt-Anschauung. Der säkularisierte Westen ist diesem Programm offensichtlich untreu geworden. Wenn Muslime im Westen die Verkörperung des Teufels sehen, dann nicht zuletzt, weil er die Welt der Entblößung und demonstrativen Sichtbarkeit repräsentiert. Und tatsächlich ist die moderne westliche Gesellschaft in höchstem Maße bildversessen: Von den „Icons“ auf dem Computer bis zu den angeblich allgemeinverständlichen Piktogrammen, die uns suprasprachlich die Wege weisen, vom TV zu schweigen. „Bild“ ist in der heute gegebenen Präsenz der pervertierte anthropologische Modus des Augentiers Mensch. Die muslimische Welt hat einen Begriff von der Negativität dieser überbordenden Bildlichkeit. Auch dafür könnte es eine bis heute wenig beachtete historische Grundlage geben. Der Religionswissenschaftler Christoph Dohmen hat die These aufgestellt, dass die Einführung des Bilderverbotes bei den Israeliten „mit der konservativen Intention abgefasst wurde, den übernommenen Nomadenritus in die neue Umgebung der urbanen Kultur als Identifikationsfaktor zu übernehmen“. Denn die ursprünglich nomadische Lebensweise besaß ausschließlich bilderlose Kultformen. Infolgedessen interpretiert Dohmen das Bilderverbot als Erhaltung des alten, mit dem naturnahen Leben verbundenen Ritus in der neu entstehenden urbanen Kultur. Das Bilderverbot zeigt somit zwei unterschiedliche Facetten: zum einen ist es der Prototyp jeder Aufklärung, zum anderen ein kultureller Archaismus: Reminiszenz an eine Lebensform, die sich gegen die Zumutungen der Moderne verschließt. So gesehen hätte der aktuelle Bilderstreit eine unerhörte Pointe: Die islamische „Treue“ zum Bilderverbot wäre zugleich die Erinnerung an eine untergegangene Lebensform. Eine Lebensform, die sich nicht an der linearen, sondern einer zyklisch verstandenen Zeit orientiert, die nicht den Gesetzen der „heißen“, sondern der „kalten Kulturen“ folgt. Erinnern wir uns: Die iranische Revolution von 1979 begann mit den zyklisch wiederholten Trauer-Umzügen, die nicht nur politische Demonstrationen, sondern auch Demonstrationen einer anderen Zeit- und Weltvorstellung waren. Jede Epoche bringt einen zentralen Erfahrungstyp hervor – der einen anderen, älteren überdeckt. In diesem älteren liegt sowohl der Schrecken als auch die Verheißung des Archaischen. Der so genannte „Kampf der Kulturen“ besteht nicht zuletzt darin, dass die jeweils andere Kultur Züge des eigenen Untergegangenen spiegelt. Eben diese Konfrontation mit dem fremd gewordenen Ähnlichen wirkt dann schockierend. Oder anziehend: Haben nicht noch vor kurzem deutsche Konservative öffentlich bekannt, wie sehr sie die religiöse Inbrunst der Muslime berührt – und sich dabei positiv auf die Bilder von Selbstgeißelungsdemonstrationen bezogen?

In unserer überbilderten Welt können wir uns kaum noch vorstellen, dass Bilder verletzen können. Dass dem so ist, gehört zu jener Dialektik der Aufklärung, die in der globalisierten Welt den Bodensatz der Moderne nur mehr an „den anderen“ erkennbar werden lässt.