Kein Kuscheln der Kulturen

Gegen den Strom differenzieren: In „1 : 1“ (Panorama) zeigt Annette K. Olesen das Dilemma der gescheiterten Integration im liberalen Dänemark auf. Für reichlich emotionalen Zündstoff ist gesorgt

VON HARALD FRICKE

Als öffentlicher Aufreger hat die Migrationsdebatte auch die diesjährige Berlinale voll erwischt. Plötzlich spuken überall gewaltbereite Ghettokids und integrationsunwillige Muslime durch die Filme. So wird der Berliner Bezirk Neukölln in Detlev Bucks „Knallhart“ als rechtsfreier Raum verbraten, in dem der geburtsdeutsche Hauptdarsteller nur zwischen dem Sodom prügelnder Türkengangs und einem Gomorrha aus drogendealenden Arabern wählen kann. Die Variante, die Annette K. Olesen mit „1 : 1“ aufzeigt, ist ein bisschen ausbalancierter; aber auch hier sind die Einwanderer kaum mehr als eine Nagelprobe des dänischen Liberalismus. Keine Frage, die Angst vor der Parallelgesellschaft wiegt schwer in einem Land, das sich seiner sozialen Errungenschaften bis hin zum kollektiven Du so sehr rühmt.

Auch bei Olesen gibt es nur Vornamen. Denn die Konstellationen sind günstig: Der Palästinenserjunge Shadi liebt Mie, ihre Mutter Sös freut sich über das Kuscheln der Kulturen. Dann passiert die Tragödie, als Mies Bruder Per ins Koma fällt, nachdem er zusammengeschlagen wurde. Bald regt sich ein Verdacht, dass es ausländische Jugendliche waren, schließlich liegt der Anteil von Migranten in der Hochhaussiedlung bei 80 Prozent, wie ein Polizist sagt. Da passt es gut, dass Shadis großer Bruder Tareq als lokale Kickboxgröße schon mal außerhalb des Rings zuschlägt und sich in der besagten Nacht hastig Blut vom Hemd gewaschen hat.

Obwohl Tareq alles leugnet, wird selbst Shadi misstrauisch. Und auch Mie ahnt, dass ihr Freund mehr weiß, als er zugibt – je stärker sie ihn drängt, den Schuldigen in seinem eigenen Umfeld ausfindig zu machen, umso verstockter reagiert er. Mit seinem Schweigen aber wächst die Gewissheit, und sie löst eine Kettenreaktion aus, an deren Ende sich Pers Rache schwörende Kumpel und die Migrantenjungs aus dem Block unversöhnlich gegenüberstehen. So weit die West Side Story aus den Suburbs von Kopenhagen.

Natürlich hat Olesen als multikulturkundige Filmemacherin gelernt, wie man gegen den Strom differenziert. Manchmal sind es Kleinigkeiten, mit denen sie einen Ton anschlägt, der in den verhärteten Konflikten kaum noch wahrgenommen wird. Da ist zum Beispiel die Tatsache, dass die zweite Einwanderergeneration fließend Dänisch spricht, wenn sie denn aus der Enge der elterlichen Wohnungen heraustritt. Und auch das Miteinander im Boxclub schert sich nicht um Rasse oder Klasse.

Das Dilemma der gescheiterten Integration hat Olesen jedoch bereits im Einstiegsbild vorgezeichnet: Weil die Vorstädte unwirtlich sind, muss auch die dort mehrheitlich migrantische Jugend zwangsläufig verrohen. Dieser Verständnis heischenden und entmündigenden These bleibt im Film aller individueller Feinschliff untergeordnet. Nie wird etwa daran gezweifelt, dass Shadi in seiner brüderlichen Loyalität wesentliche Schuld am Drama trägt. Dabei will Olesen gerade das Vertrauen in die Community stärken, das in den Wohnfestungen verloren zu gehen droht. Dass ihr Konzept überhaupt Mängel hat, merkt man schon in der Mutmaßung des Polizisten: Auch bei 80 Prozent Ausländern besteht die Möglichkeit, dass einer von ihnen ein Verbrechen begangen hat, nur zu 50 Prozent. Entweder er war es oder er war es nicht. Alles andere sind Spekulationen, die „1 : 1“ mit reichlich emotionalem Zündstoff versorgen. Aber über die angeblich bedrohlichen Verhältnisse in Dänemark oder anderswo ist damit nichts gesagt.