Nicht die Nerven verlieren

Botho Strauß und andere kultivieren ihre Kulturkritik – und erkennen im islamischen Furor, was säkularen Gesellschaften fehle: Inbrunst und Innerlichkeit. Die fehlten uns gerade noch!

Die religiöse Kraft ist den Deutschen ausgegangen – hier ist Strauß ja Recht zu geben.Aber das ist ein Segen

VON JAN FEDDERSEN

Botho Strauß weiß um den Verdacht, der einem wie ihm stets angehängt wird – jenen, ein Rassist zu sein. Mit Blick auf die Umstände und aus Anlass der sichtbaren Folgen der Veröffentlichung der dänischen Mohammed-Bilder schrieb er im Spiegel, Ressentiments gegen ihn aufgreifend, ohne Missverständnis: „Niemand von geradem Gewissen wird sich von der Köterspur des Rassismus samt seiner xenophoben Abarten reizen oder verführen lassen.“ Er schon gar nicht – ihm geht es um anderes, um viel mehr, dieser Text zu den muslimischen Unruhen um dänische Karikaturen legt seine Karten offen. Er umreißt, was er am Islamischen für beneidenswert, faszinierend und kostbar hält: eine gewisse Beseeltheit, die er in der bundesdeutschen Moderne des Jahres 2005 allenthalben verloren glaubt.

Der zurückgezogen lebende Schriftsteller („Paare, Passanten“) ist durch seinen Beitrag im Spiegel zum präzisesten Chronisten bildungsbürgerlichen Unmuts geworden. Was er für den „Konflikt“ hält, ist, dass die muslimische Unruhe, ihn offenbar beeindruckend, „den Nicht-Zerfall, die Nicht-Gleich-Gültigkeit, die Regulierung der Worte, die Hierarchien der sozialen Verantwortung, den Zusammenhalt in Not und Bedrängnis“ repräsentiert, ja, so Strauß, eine „sakrale Potenz“ inkorporiert, die das entchristianisierte Mitteleuropa nicht mehr begreift. Strauß malt jenes moderne Deutschland kontrapunktisch als wurzellos, hingegeben den „Weltmärkten, technischen Innovationen, Sitten und Moden“. Nichtmuslime in diesem Deutschland litten, so sein Eindruck, der auf eine schwere nervliche Erschütterung hindeutet, unter delirierend machender Heimatlosigkeit, für nichts zu begeistern, rückgratlos der religiösen Entschlossenheit ausgeliefert. Mehr noch: „Es wird ihm sein inneres Hab und Gut eher streitig gemacht von den Zwängen der Anpassung, der Vorteilssucht und des Karrieredenkens als von den Strenggläubigen des Propheten.“

Das Muslimische, das er sieht, erkennt er als religiöse Kraft, die er gelten lassen möchte – und das Christliche sähe er gern ebenbürtig. Wo andere jedoch von der Gefahr der „Parallelgesellschaften“ sprechen, wählt Strauß lieber die Diagnose der „Vorbereitungsgesellschaft“: eine Renaissance des Sittlichen, der Hierarchie der Beseelung. Frank Schirrmacher sekundierte, dass die demografische Entwicklung den muslimischen Einfluss in Europa begünstige: Niemand will, so seit seinem „Methusalem-Komplott“, mehr Eltern werden, jedenfalls nicht unter den Altdeutschen.

Stutzig macht, verfassungstreu genommen, freilich nicht allein Strauß’ Klage über den Verlust der guten alten patriarchalen Ordnung, verkleidet in der Vokabel von der „Hierachie der sozialen Verantwortung“, sondern auch Schirrmachers Entsetzen über die Bevölkerungsentwicklung, die allerdings, die Rekreationszahlen der muslimisch geprägten Einwanderer ernst genommen, nur dazu führt, dass nicht die Deutschen aussterben, sondern die straßenköterblonden Deutschen. Stattdessen glaubt er sich von Fluten Ganz-Anderer bedroht – so wie Strauß eben neidisch ist, weil diese noch glauben, an was sie glauben.

Zwei schriftlich fixierte Szenarien, die den Fokus der klassisch-bürgerlichen Angst vor Veränderungen kenntlich machen: Strauß erkennt im Muslimischen nur das Göttliche, Schirrmacher die unerwünschte Antwort auf die demografische Entwicklung. Beiden aber geht es um die Tradition, um den Verlust von Vorstellungen zu dem, was Menschen gesellschaftlich zu tun haben oder zu lassen. Beide wollen Deutschland, aber seine Säkularität ist ihnen ein Gräuel: Die Freiheit, auf Nachwuchs zu verzichten. Freiwilligkeit ist eben der Kern des Grundgesetzes: Man darf, aber man muss nicht. Aber mit diesem Hinweis kommt man bürgerlichen Kritikern des Jetzt nicht bei.

Auch Verfassungsrichter Udo di Fabio, Autor der Schrift „Die Kultur der Freiheit“, zehrt vom gleichen Missbehagen: Ende des Jahres erzählte er von einer Ausfahrt seiner Familie – er mit Frau und den vier Söhnen – mit dem Auto. Als ihn ein, wie er sagte, türkischer Familienvater sah, meinte er Respekt in dessen Augen für die muntere Fortpflanzungsleistung zu erkennen: Die dynastisch orientierten Einwanderer könnten den Altdeutschen kaum Achtung entgegenbringen, weil diese sich der Kinderproduktion, dieser vornehmsten Aufgabe, mehr und mehr verweigerten. Auf den Einwand, dass sein Lebensentwurf als Vater – wie der seiner Frau als Mutter – freiwillig gewählt sei, der der meisten muslimisch geprägten Migrantinnen aber nicht, sagte Di Fabio nur, Kinder seien doch etwas Vitales.

Das war schon deshalb eine erstaunliche Bemerkung, weil man von einem der Hauptinterpreten des Grundgesetzes erwarten sollte, dass er die Not (möglicherweise nur seine) anerkennt, Freiwilligkeit für jedweden Lebensentwurf gelten lassen zu müssen: Bürgerliche Kader wie der Verfassungsrichter, so darf geschlossen werden, fühlen sich durch die wie automatisch funktionierende Familiarität der Einwanderer moralisch in Fesseln gelegt. Was sie alle, Strauß wie Schirrmacher oder Di Fabio, gemeinsam haben, ist eine gewisse Nervenlosigkeit, was das Verfassungsversprechen eigentlich bedeutet: Du musst dein Leben nicht mehr religiösen Maßstäben unterwerfen, du musst keine Kinder gebären, du musst dir die bevölkerungspolitischen Sorgen nicht zu Eigen machen, du kannst, je nach innerer Kraft, dein Leben leben, wie es dir selbst einleuchten möchte. Für nichts anderes steht, moralisch und sittlich genommen, das Grundgesetz. Es war gerade eine Erleichterung für die meisten Deutschen, nach den Jahren des Nationalsozialismus und der rechristianisierten Ära der Fünfziger, plötzlich nur noch den eigenen Lebensentwurf ergrübeln zu müssen: Schwer genug, aber besser als sich Meriten wie Mutterkreuze oder Militärorden anhängen zu wollen, ohne die einst gesellschaftliche Anerkennung nicht zu haben war.

Die Freiheit im Säkularen ist eine kalte: Jeder muss selbst sein Ding machen, wie es salopp neudeutsch heißt. Kein Gott, der sagt, was Sache zu sein hat. Kein Göttliches, das jenseits des eigenen Alltags verheißen wird – es sei denn, einer oder eine will dies so sehen. Die religiöse Kraft ist den Deutschen ausgegangen – hier ist Strauß ja Recht zu geben. Aber das ist ein Segen. Die Regeln des Anstands klären, was Wert hat und was nicht. Schwächere tritt man nicht, und Stärkere fördern die weniger Durchsetzungsfähigen. Was sittlich darüber hinaus geht, das regeln die Strafgesetze. Darauf verlassen sich im Übrigen all jene Einwanderer, die ihren despotischen Gesellschaften entkommen konnten: Dass ihnen das Religiöse, der Zwang zum Transzendenten fehlt, ist nicht überliefert. Und nicht allein sie: Auch die Nachkriegsdeutschen konnten, so sie wollten, lernen, dass kein Pfarrer sie einschüchtern könnte – nur freiwillig, nicht um den Preis, beim Verstoß gegen dessen Gebote gesellschaftlich durch den Rost geworfen zu werden. Moralischer Abfall, religiös nur noch als sünderhaft zu begreifen – aber wen schert das schon krass?

Die Debatte um das Unbehagen an der Moderne eint, summa summarum, Islambeseelte und altdeutsche Konservative – eine Union, deren Alliierte gemeinsam kurz vor dem Nervenzusammenbruch stehen: Sie fantasieren beide Ordnungen herbei, die, wären sie mit Zwang verknüpft, mit dem Grundgesetz nicht vereinbar sind. Die einen wollen gemütvoll Trost durch Allah erfahren, „Seufzer der bedrängten Kreatur“ (Karl Marx) ausbringen, die anderen hätten gern mehr Kinder und die Idee aufpoliert, dass die Familie von Papa, Mama & Kind(ern) die beste auf der Welt ist. Welch eine Tragödie, dass sie nur noch dann realisiert wird, wenn die Betroffenen sie auch okay finden. Und wenn nicht: Dann wird es andere Lösungen für demografische oder spirituelle oder transzendenzbedürftige Probleme geben.