Die Welt in der Schachtel

DDR-Literatur, die nie erschienen ist: Die Ausstellung „Literarische Gegenwelten“ im Berliner Literaturhaus

Geipel und Walther haben ein „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“ angelegt, das bereits vierzigtausend Manuskriptseiten umfasst

In dem Artikel, mit dem im Juni 1990 der deutsch-deutsche Literaturstreit um Christa Wolf und ihre Erzählung „Was bleibt“ seinen Anfang nahm, wirft Frank Schirrmacher der DDR-Autorin „ein familiäres, fast intimes Verhältnis zu ihrem Staat“ vor. Vor diesem Hintergrund müsse es fraglich erscheinen, ob Wolf jemals begriffen habe, dass sie „in einem totalitären System lebte“.

Monatelang haben sich damals die Feuilletons und politischen Leitartikel mit dem Fall Christa Wolf beschäftigt – dabei ging es weniger um Christa Wolf und auch weniger um DDR-Literatur als vielmehr um die Frage, wie man sich denn in einem solchen System angemessen zu verhalten habe.

Auch bei dem „Archiv unterdrückter Literatur in der DDR“, einem Projekt der beiden Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Ines Geipel und Joachim Walther, geht es nicht um Christa Wolf. Wohl aber um die Literatur, die in vierzig Jahren DDR entstanden ist, genauer: um jenen Teil dieser Literatur, der niemals an die Öffentlichkeit kommen konnte, weil die Autoren eben gerade kein familiäres oder intimes Verhältnis zu ihrem Staat gehabt haben. Christa Wolf stellt da nur einen sinnfälligen Kontrast zu diesen unbekannten Autoren dar. Denn trotz ihrer kleinen Proteste, trotz ihrer zeitweiligen Observierung durch die Staatssicherheit, trotz selbst auferlegter Selbstzensur – Wolf hat in der DDR gelebt, sie hat hier publiziert, wurde gar über die Grenzen der DDR hinaus bekannt.

Wenn wir dagegen von Schriftstellern wie Edeltraud Eckert, Eveline Kuffel oder Günter Ullmann überhaupt erfahren, ist das Geipel und Walther zu verdanken: Von 2001 bis 2004 haben sie mit Unterstützung der Stiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur ihr Archiv angelegt, in dem sie Manuskripte und Lebensläufe von totgeschwiegenen oder weggesperrten Autoren sammeln. Über vierzigtausend Manuskriptseiten umfasst das Archiv bereits; die daraus hervorgehende „Verschwiegene Bibliothek“ ist auf zwanzig Bände angelegt, von denen inzwischen vier erschienen sind. Im Berliner Literaturhaus vermittelt jetzt die Ausstellung „Literarische Gegenwelten“ Einblicke in diese Welt einer nicht nur nicht kanonisierten, sondern oft bis heute nicht publizierten Literatur.

Einblicke – das ist dabei durchaus auch wörtlich zu verstehen. In dem kleinen Raum sind Stellwände aus Pappkartons in- und übereinander geschoben, die mit Fotos und literarischen Texten, mit offiziellen Stellungnahmen, Zeitungsausschnitten oder kurzen Lebensläufen beklebt sind. Zwischen diesen nach Jahrzehnten angeordneten und zusätzlich thematisch strukturierten Kartons bleiben nur schmale Gassen frei – die räumliche Anordnung des Archivmaterials bildet so die Enge nach, die viele der Autoren in ihrem täglichen Leben erfahren haben: „Die Welt ist eine Schachtel / ich lach den aus, / den ersten, der behauptete, / sie sei rund und / dass sie sich bewegt“, heißt es in einem Gedicht von Eveline Kuffel.

„Das war eine minimierte Welt“, sagt Ines Geipel dazu in einem Gespräch über ihr Archiv, das man in der Ausstellung über Kopfhörer anhören kann. Dennoch habe es gerade innerhalb dieser eng umgrenzten Welt Versuche gegeben, literarische Gegenwelten zu entwerfen – interessant sind dabei nun natürlich vor allem die Texte, die das konsequent tun, die nicht etwa nur gelegentliche Ausbrüche von Frustration abbilden. Dennoch haben Ines Geipel und Joachim Walther bei ihrer Auswahl keine ästhetischen Kriterien: Zugang finden alle literarischen Texte, die zu Zeiten der DDR geschrieben und in der DDR nicht veröffentlicht wurden.

Der Begriff von den Gegenwelten, den Geipel verwendet und der im Titel der Ausstellung wieder auftaucht, scheint nun für die Ausstellung selbst strukturbildend zu sein – was einen großen Teil ihrer Faszination ausmacht: Gegenwelten brauchen ein Gegenüber – eine Welt, die ihrerseits nicht gegen etwas sein muss, weil sie die offiziell gültige ist. Die Ausstellung setzt diese Konfrontation von Welt und Gegenwelt durch die Gegenüberstellung der literarischen Texte mit den Verlautbarungen des Regimes ins Bild.

So macht sie die Tragik dieser unveröffentlichten Texte und ungelebten Leben deutlicher, als das eine explizite Stellungnahme je könnte: „legt uns nicht den horizont um den hals“, dichtet etwa Günter Ullmann, und Erich Honecker konstatiert: „Parteilichkeit, Volksverbundenheit und sozialistischer Ideengehalt sind und bleiben jene Kriterien, an denen sich der Wert eines Kunstwerks vor allem entscheidet.“ ANNE KRAUME

Die Ausstellung geht bis zum 15. März, Literaturhaus Berlin, Fasanenstraße 23