„Man stürzt, steht wieder auf und latscht weiter“

Valeska Grisebach, Regisseurin von „Sehnsucht“ (Wettbewerb), über das Nebeneinandervon Glück und Unglück, Sätze, die viel wollen, das Verhältnis von Melodram und Alltag, Laiendarsteller, zeitgenössische amerikanische Literatur und Alkohol am Arbeitsplatz

INTERVIEW CRISTINA NORD

taz: Frau Grisebach, warum war es Ihnen wichtig, mit Laiendarstellern zu arbeiten?

Valeska Grisebach: Zum einen war es für mich interessant, an „Mein Stern“ anzuknüpfen. Denn damals haben wir diese Arbeitsweise schon ausprobiert. Zum anderen war es aus formalen Gründen wichtig. „Sehnsucht“ erzählt eine melodramatische Geschichte, und im Kontrast dazu gibt es Akteure, die man nicht von vornherein mit den Akteuren eines Melodrams verbindet, keine Stars. Es ging mir darum, gerade diesen Augenblick herzustellen, in dem jeder ein Star, jeder der Hauptdarsteller seines Lebens ist. Aus diesem Kontrast kann vielleicht ein Glitzern entstehen.

Haben Sie den Laiendarstellern gegenüber eine besondere Verantwortung?

Zum einen schon. Gerade in der Phase des Kennenlernens und des Castings geht es für alle, die mitmachen, darum, etwas Grundsätzliches zu klären: Können wir das zusammen machen? Was kann es bedeuten, wenn ich mich darauf einlasse – nicht nur bis übermorgen, sondern über eine längere Zeitspanne?

Und zum anderen?

Man kann nicht alles kontrollieren. Die Darsteller haben eine Entscheidung getroffen; sie wollten in dem Film spielen, und sie sind erwachsene Menschen, integriert in ihr Leben. Der Film ist darin nur ein Teil von vielen. Außerdem begreife ich sie als Darsteller, nicht als private Personen, die ich in einen Film hineinstelle.

Dann spielen Sie also nicht sich selbst?

Nein, überhaupt nicht.

Haben sie für die Zeit der Dreharbeiten Urlaub genommen?

Unterschiedlich. Andreas Müller und Ilka Welz haben Urlaub genommen. Beide sind sehr gut in ihrem sozialen Gefüge eingebettet, was eine gute Voraussetzung ist, da ihre Familien und Freunde sie mitgetragen haben. Anett Dornbusch war zum Teil sehr eingespannt, weil sie in einem Familienbetrieb arbeitet. Sie hatte daher einen besonderen Kraftakt zu leisten. Aber ich staunte immer wieder: Die passen wirklich gut auf sich auf.

Sie sagten eben schon, „Sehnsucht“ mische das Melodramatische mit dem Alltäglichen. Wie würden Sie das Verhältnis des einen zum anderen beschreiben?

Neulich hat mal jemand gesagt, die Sätze, die im Film gesprochen werden, seien wie eine eigenständige Filmfigur – wenn sich die Leute gegenüberstehen und Sätze sagen wie: „Ich würde alles für dich tun.“ Von manchen dieser Sätze sagen die Darsteller: „So was würde ich nie sagen.“ Das heißt, es öffnet sich ein überhöhter, künstlicher Raum. Für mich sind das Markierungen innerhalb der Geschichte, weil diese Sätze eine Unmöglichkeit in sich tragen, eine Form von Sehnsucht, von Verführung.

Wie meinen Sie das?

Diese Sätze wollen so viel! Der Kontrast von Melodram und Naturalismus hat für mich mit Größe auf der einen und Beschränktheit auf der anderen Seite zu tun. In einem ganz romantischen Sinne kann man der Größe und der Weite der Welt gegenüberstehen, und gleichzeitig ist man eben nur ein Einzelner, an einen begrenzten Raum gebunden. Vor diesem Hintergrund fand ich es interessant, die großen Sätze und den großen meldodramatischen Plot mit dem Alltäglichen, Ungeordneten, Ruppigen zu kombinieren.

Sie sagten bei der Pressekonferenz, Sie wollten für „Sehnsucht“ eine „schlichte und umgangssprachliche Kamera“. Warum?

Ich lese sehr gerne zeitgenössische amerikanische Literatur. Die Sprache ist so lakonisch, verkürzt, so umgangssprachlich. Das ist eine interessante Fährte für Bernhard Keller …

den Kameramann …

… und mich. Es geht darum, sich zurückzunehmen, von der Kamera nicht zu viel zu wollen.

„Sehnsucht“ arbeitet nicht nur mit dem Kontrast von Melodramatischem und Alltäglichem, sondern am Ende auch mit dem Kontrast von dramatischer Zuspitzung und einer Art Koda, einer heiteren Szene, in der Kinder den Gang der Geschichte kommentieren. Ging es Ihnen in dieser Szene um Lakonie?

Wichtig war mir, dass es eine Art von Erlösung gibt, etwas, was einen auffängt. Im Leben ist es ja oft so, dass das Glück neben dem Unglück steht, ohne kausal verkettet zu sein. Man stürzt, steht wieder auf und latscht weiter. Das fand ich für die Geschichte wichtig: dass die Tür wieder aufgeht, dass Markus die Chance bekommt, zum romantischen Helden zu werden. Wer weiß, vielleicht trägt er die Narbe, die er hat, wie einen Orden.

„Sehnsucht“ zeigt häufig Feste – im Kreis der Familie, im Kreis der Freiwilligen Feuerwehr. War es schwierig, die zu filmen?

Das ist ein Flohzirkus. Bei den entsprechenden Sequenzen war unser Team fast zu klein, da sind wir richtig ins Rotieren gekommen.

Wie gehen Sie denn an solche Sequenzen heran? Sie haben 25 Leute, die alle Schnaps trinken – natürlich ist es kein echter Schnaps –, es soll ausgelassen zugehen. Aber als Regisseurin müssen Sie die Fäden in der Hand behalten.

Die haben am Ende wirklich Schnaps getrunken. Ich hätte ihnen von Anfang an Schnaps geben sollen. Ich habe den klassischen Filmfehler gemacht, dass man den Darstellern keine alkoholischen Getränke gibt. Aber die trinken ja gar nicht so viel, die wissen, wie viel sie vertragen. Wenn man ihnen drei Stunden lang nichts zu trinken gibt, und dann sollen sie plötzlich feiern – das geht nicht gut.

„Sehnsucht“. Regie: Valeska Grisebach, Deutschland 2005, 90 Min.