Die Furcht, gesehen zu werden

In den Filmen aus Brasilien, „Meninas“ und „Atos dos Homens“, geht es um minderjährige Mütter und die Wahrscheinlichkeit eines gewaltsamen Todes

Schon die erste Szene des Panorama-Beitrags „Meninas“ setzt die Pointe des Films. Eine Minderjährige, deren Schwangerschaftstest im Krankenhaus gerade positiv ausfiel, beantwortet gelassen die Fragen der Ärztin. Beruf des Vaters? „Drogendealer.“ – „Wie bitte?“ – „Drogendealer.“ – „Ach so.“

In Rocinha, der größten Favela von Rio de Janeiro, sind die Berufsaussichten der Männer nun einmal so, wie sie sind. Überrascht tun kann niemand mehr. Das Normale wird das Akzeptierte. Ein Jahr lang haben Sandra Werneck und Gisela Camara mit ihrer Kamera Mädchen begleitet, die eben noch Kinder waren, sich kleiden und reden wie junge Erwachsene und in wenigen Monaten zu Müttern werden. Verblüffend, mit welcher Offenheit hier 13-Jährige über Sexualität reden. Erschreckend, wie wenig Vorsicht ihnen dabei geboten erscheint.

Verzweifelt ist keine dadurch, höchstens die baldigen Großeltern. Jetzt muss man die Karriereplanungen eben wieder einpacken. Schauspielen wollte die eine, eine andere setzte auf eine Offizierslaufbahn in der Armee. Ausgehen und tanzen geht aber immer noch. Das Neugeborene kriegt erst mal einen Ohrring, danach geht man Reizunterwäsche einkaufen. Einmal sagt eine: „Ein Teil von mir ist irgendwo immer noch ein Kind.“ Die baldigen Väter, zumindest einer von ihnen, zeigen sich verantwortungsbewusster, als das Klischee des Machismo es hätte erwarten lassen. Der Vater des Kindes von Eveline arbeitet für einen Drogendealer. Er will aussteigen, einen anderen Job suchen, sie drohen, ihn zu töten. Erst als er in Begleitung seiner schwangeren Freundin noch einmal darum bittet, lässt man ihn ziehen. Im Abspann erfährt man, dass er nach Ende der Dreharbeiten bei Kämpfen mit der Polizei erschossen wurde.

Während „Meninas“ in der konzentrierten Beobachtung seiner Protagonisten völlig aufgeht, Fragen nach den sozialen Bedingungen nur gelegentlich streift, und die Verhältnisse dadurch (beinahe) mit der gleichen Selbstverständlichkeit akzeptiert wie seine Protagonistinnen, umschreibt „Atos dos Homens“ von Kiko Goifman sein Thema so sehr vom Rande her, dass es droht, ihm verloren zu gehen. Im März 2005 fielen in Baixada 29 Menschen dem Amoklauf einer Todesschwadron zum Opfer. Die Filmemacher begaben sich auf die Suche nach den Folgen der Untat. Sie sprechen mit Priestern, Radiojournalisten, Polizeifotografen. Ein Klatschreporter führt sie in die hermetisch geschützten Clubs der Reichen. Ein ausgesprochen fideler Endzeitprediger verkündet fröhlich das Aus für alles. So viele neue Gesprächspartner wechseln einander ab, dass man irgendwann den Überblick verliert.

Wunderschön ist das Licht des Films, auf der Berlinale hat man schon so viele Dokumentationen gesehen, die digital gedreht wurden, dass man beinahe vergessen hatte, welche warmen Farben Zelluloid zaubern kann. Das Zentrum bilden aber die Bilder, die fehlen. Bei blendend weißer Leinwand sprechen die Angehörigen der Opfer, die ihr Gesicht nicht zeigen wollen, weil bald klar war, dass Polizisten das Blutbad begangen haben.

Die Sensation von „Atos des Homens“ ist aber das Interview mit einem Mitglied solch eines Killerkommandos in Uniform. Der redet, wie man es von einem durchgeknallten Selbstgerechten erwartet: Wir beseitigen nur den Abschaum der Straße. Verstecken kann man sich vor dieser Stimme nicht – auch er spricht in die Helligkeit des Kinosaals, in dem man sich als Zuschauer plötzlich unangenehm sichtbar fühlt. DIETMAR KAMMERER

„Meninas“. R: Sandra Werneck.Brasilien, 71 Min. „Atos dos Homens“.R: Kiko Goifman, Brasilien/Deutschland, 75 Min.