In Hartz-IV-Abgründen

Leise Töne, kostbarste Literatur: Jakob Heins feiner Roman „Herr Jensen steigt aus“

VON JÖRG MAGENAU

Menschen wie Herr Jensen tun niemandem etwas zuleide. Sie machen sich klein und unscheinbar, um unbehelligt zu bleiben. Sie lassen sich zu keinen Unhöflichkeiten provozieren und ducken sich unter möglichen Widerständen einfach weg. Vielleicht nerven sie ein wenig, weil sie in kein Schema passen und seltsame Fragen stellen. Aber das erklärt noch nicht, warum eines Tages irgendwelche Sozialarbeiter oder Polizisten vor ihrer Wohnungstür stehen und sie bitten, ganz ruhig mitzukommen: im eigenen Interesse und weil es das Beste für sie sei.

Diese Menschen brauchen das Asyl der Literatur, um zu überleben. Hier können sie es zu Helden bringen, gerade weil sie das schlichte Verständnis verweigern. Solche Figuren sind beispielsweise Robert Walsers Jakob van Gunten oder Reinhard Lettaus Mannig, Raoul Tranchierer von Ror Wolf, der Stadtführer Dorst in Annette Pehnts Roman „Ich muss los“ oder eben Herr Jensen im neuen Buch von Jakob Hein. Es sind Helden der leisen Töne, Helden des Rückzugs und der Melancholie, bei denen man nie weiß, ob sie eher komisch oder tragisch sind. Wahrscheinlich ist das sowieso dasselbe. Gäbe es mehr Menschen wie sie, dann wäre die Welt zweifellos besser. Die Bücher, die über sie geschrieben werden, sind klein und schmal wie diese Helden selbst. Der Respekt vor ihnen gebietet auch den Autoren Zurückhaltung und den Verzicht auf alles Großsprecherische. Solche Bücher gehören zum Kostbarsten, was die Literatur zu bieten hat.

Jakob Hein, Jahrgang 1971, hat sich zu dem Tonfall, der dafür nötig ist, in drei eher autobiografisch angelegten Büchern vorgearbeitet. Sie handelten von der Kindheit in der DDR, von einer Reise in die USA und in den neuen Westen und, zuletzt, vom Tod der Mutter. Jedes Buch war ein bisschen besser als das vorige, doch erst „Herr Jensen steigt aus“ ist ganz und gar literarisch. Die Schlichtheit der Sprache ist nun formale Notwendigkeit. Das knappe Erzählen ist Kalkül. Die Pointen zünden darin so einfach wie Geistesblitze, die man ja auch nicht kommen sieht. „Herr Jensen steigt aus“ ist so heiter wie tiefgründig und ungemein politisch: ein Roman, der in die Abgründe der Hartz-IV-Gesellschaft führt. Für Politiker aller Parteien sollte er zur Pflichtlektüre werden.

Herr Jensen ist Briefausträger bei der Post. Als Schüler hat er damit angefangen, als Student weitergemacht und es nach mehr als zehn Jahren und längst vollzogener Exmatrikulation zur Daueraushilfe gebracht. Sorgfältig, geradezu liebevoll, steckt er die Post in die Briefkästen und ist zufrieden, wie nur unambitionierte Menschen zufrieden sein können. Doch eines Tages wird ihm im Rahmen eines Programms zur Verhinderung betriebsbedingter Kündigungen gekündigt.

Das versteht Herr Jensen nicht, denn es ist nicht zu verstehen. Von nun an ist er das, was man einen „Freigestellten“ nennt, und siehe da, er macht nach anfänglicher Irritation Gebrauch von seiner Freiheit. Er studiert die Welt, die ihn umgibt, und lernt, Fragen zu stellen. Herr Jensen nimmt nichts so hin, wie es ist. Das macht aus ihm noch lange keinen Rebellen. Aber unbequem ist er schon. Die Aktivitäten, zu denen ihn das Arbeitsamt zwingt – etwa der Besuch einer sinnlosen Schulung, die angeblich der Weiterbildung, tatsächlich aber bloß der Zeitvernichtung dient – bestärken ihn darin, dass das Nichtstun die beste Position zur Welt- und Zeitbeobachtung bietet.

Man kann dieses kleine Buch als erzählerisches Pendant zum Manifest der glücklichen Arbeitslosen lesen. Leichthändig wie ein Jongleur wirbelt Jakob Hein alltägliche Gewissheiten durcheinander und zeigt die Zerbrechlichkeit der gesellschaftlichen Vereinbarungen, auf denen das Zusammenleben beruht. Aus dem Studium der Fernsehprogramme destilliert Herr Jensen die Erkenntnis dessen, was als „normal“ zu gelten hat. Zu den zehn Geboten der Konsumgesellschaft gehört es demnach, schön und modebewusst zu sein, Geld und Freunde und regelmäßigen Sex zu haben, sich in Musik auszukennen, zu arbeiten und etwas mit sich anfangen zu können.

Auf Herrn Jensen trifft nichts davon zu. Er macht sich seine eigenen Gedanken über die Bedeutung von Fußballspielen und Fernsehkameras, über Arbeitsteilung, über Kopien als Informationsvernichtung, über Gene und Moleküle, Luft und Pflanzen und über die Wirtschaftskrise, von der permanent die Rede ist, von der er aber nichts erkennen kann, weil vor seinem Fenster immer noch dieselben durchaus zufriedenen Leute ihre zufriedenen Hunde ausführen.

Dass die Verhältnisse verrückt sind, ist gewiss. Ob Herr Jensen eher verrückt oder aber scharfsinnig ist, lässt sich weniger leicht entscheiden. Dass er gegen Ende der in 18 knappe Kapitel gegliederten Erzählung einige paranoide Züge entwickelt, ist nur zu gut verständlich. Elegant blendet Jakob Hein immer wieder die große Politik auf die Kleinverhältnisse des Alltags herunter und führt sie damit ad absurdum.

Hein wirft einen distanzierten Blick auf Konsum- und Arbeitswahn, wie es vielleicht nur Autoren können, die noch in der DDR aufwuchsen und die die Wende in jungen Jahren miterlebten. Sie haben erfahren, dass die gesellschaftlichen Kulissen sehr schnell wechseln können und Selbstverständlichkeiten nichts mehr wert sind. Deshalb ist ihnen nichts selbstverständlich. Sie waren aber jung genug, auf das Neue mit Neugier und ohne Scheuklappen zuzugehen. Deshalb ist die Absurdität ihr Terrain. Ihr Thema ist die permanente Diskrepanz zwischen dem behaupteten Sein und dem sich einstellenden Schein der rätselhaften Weltphänomene. Für die Entstehung von Literatur sind das allerbeste Voraussetzungen. Jakob Hein macht daraus keine große Sache. Nur einen kleinen, großen Roman.

Jakob Hein: „Herr Jensen steigt aus“. Roman. Piper Verlag, München 2006, 134 Seiten, 14,90 Euro