sozialkunde
: Der Affront im Prozess der kulturellen Ausdifferenzierung

Mittendrin in der Schismogenese: Wer Gregory Batesons „Ökologie des Geistes“ kennt, sieht weiter im aktuellen Karikaturenstreit

Dass man bezüglich desselben Sachverhalts unterschiedlicher Auffassung sein kann, dass für die einen befremdlich ist, was für die anderen heilig ist, und dass die einen dort neugierig sind, wo die anderen von unantastbaren Geheimnissen ausgehen – das alles sind Strukturmerkmale, die das Genre des Cartoons definieren. Zum Witz wird der Cartoon ja nur deswegen, weil er das Unvereinbare aufeinander bezieht und die eine der beiden Positionen, die Darstellung des Befremdlichen, sofort wieder daraufhin zurücknimmt, es nicht wirklich ernst zu meinen.

Dieser Unernst überlässt es der anderen, der dargestellten Position, ob sie sich ob der Darstellung angegriffen oder ob der Zurücknahme der Darstellung in dem Witz zugleich auch respektiert fühlt. Im Cartoon steckt damit eine zutiefst zivilisierende Leistung, die freilich alles andere als selbstverständlich ist. Denn sie setzt mindestens voraus, dass der Unernst als solcher akzeptiert wird. Wird der Unernst selbst als Affront empfunden, ist der Witz des Cartoons verspielt und wird die Darstellung zu einem Angriff, der auch als solcher beantwortet wird.

Gregory Bateson hat Formen der kulturellen Ausdifferenzierung dieser Art in seinem Buch über die „Ökologie des Geistes“ (Suhrkamp, 1985) als Schismogenese beschrieben, das heißt, als einen Prozess, der eine Kultur generiert, indem er eine Spaltung, eine Trennung, eine Zweiseitigkeit, einen Zusammenhang des Verschiedenen herausarbeitet und festschreibt. Man wird vermuten müssen, dass die gegenwärtige Lage der Streitigkeiten zwischen dem Westen und dem Islam nicht zuletzt deswegen so explosiv ist, weil der Prozess der Schismogenese hier noch nicht zum Abschluss gekommen ist.

Man kennt sich noch nicht, und dies nicht zuletzt deswegen nicht, weil weder den Christen noch den Muslimen klar ist, von welchem jahrhundertelangen Prozess der Schismogenese die aktuelle Phase nur einen Ausschnitt darstellt. Es fehlt das historische Bewusstsein, und es fehlt deswegen, weil man in dieser Geschichte der wechselseitigen Eroberung, Befruchtung und Missionierung hinreichenden Zündstoff sowohl für die Unversöhnlichkeit wie für die Gemeinsamkeit findet und deswegen nicht weiß, wo man anfangen und wo man aufhören soll.

Der Begriff der Schismogenese ist in dieser Situation ein geeignetes Beobachtungsinstrument, eine Art Vergrößerungs- und Verkleinerungsglas zugleich für das Verständnis aktueller Konflikte, um sich klar zu machen, dass der Streit, die Spaltung, die Auseinandersetzung zwei und möglicherweise auch mehr Gruppen der Weltbevölkerung voneinander trennt, die innerhalb ein und derselben Weltkultur zugleich aufeinander bezogen, nämlich Teil desselben Zusammenhangs sind. Anders könnte man gar nicht verstehen, warum der Streit so heftig ist und man sich keine Sekunde aus den Augen lässt.

Der Begriff der Schismogenese macht so etwas Schwieriges beobachtbar, er macht mir aber auch klar, dass ich selbst dann, wenn ich kaum noch verstehe, in welchen Konflikten ich stecke, immer noch ausprobieren kann und muss, ob ich nicht auf anderen Wegen zu erfreulicheren Ergebnissen komme. Und ein dritter Vorteil kommt hinzu: Selbst wenn ich sehe oder zu sehen glaube, dass der andere agiert, ohne irgendein Verständnis von der Kontaktform der Kultur zu haben, weiß ich, dass es nicht nur von seinem, sondern auch von meinem Verhalten abhängt, ob und wie es weitergeht.

Der gnadenlose Versuch, dem anderen eine Kultur beizubringen, die man selbst schon zu besitzen glaubt, ist selbst nur ein Verhalten, das zu einer Antwort führt, die sich aus der Logik des Kontakts ergibt, nicht aus irgendeiner Art übergeordneter Vernunft. Es ist keine Form der Metakommunikation, die es mir erlauben würde, mich aus dem Konflikt herauszuhalten, um den anderen erst einmal dazu zu erziehen, ihn mit mir nach Möglichkeit gar nicht erst zu suchen. Wir stecken, gleichgültig was wir tun, immer schon mitten im Handeln. DIRK BAECKER