Die Männer-Versteherin

Weil Müntefering tapfer Zumutungen verkündet, kann Merkel glänzen. Die SPD steckt in einer Falle

von ULRIKE HERRMANN
und STEFAN REINECKE

1. Merkel hat Erfolg, weil sie eine Frau ist.

Schröder, Schily und Fischer werden nicht vermisst. Stattdessen entspannen sich die SPD-Minister. Endlich dienen sie einer Kanzlerin, die zuhört und nicht doziert, die lobt und nicht demütigt. Die gute Stimmung im Kabinett strahlt auch auf die Medien und Wähler aus.

Justizministerin Zypries bestreitet, dass Merkels Führungsstil typisch für Frauen sei. „Weiblich, männlich, das sind doch alles Klischees. Es gibt Männer, die würden es genauso machen.“ Ein Irrtum. Merkels Führungsstil ist schon deswegen weiblich, weil sie keine Wahl hatte. Nie hätte sie so selbstverliebt agieren können wie Schröder. Frauen müssen soziale Kompetenz zeigen, schon von frühester Kindheit an, sonst verlieren sie.

Bei Frauen würde es auch seltsam wirken, wenn sie wie Schröder zu Rotweinrunden lüden, um Staatsprobleme zu lösen. Männern steht der Rausch, weil sie sich gehen lassen dürfen. Frauen hingegen haben stets fleißig zu sein. Gerade die männlichen Kabinettsmitglieder sind nun erstaunt, wie akribisch genau Merkel die Akten liest. Innenminister Schäuble bewundernd: „Merkel ist informiert, kümmert sich um alles und hat eine hohe Arbeitsdisziplin.“ Als Frau blieb ihr gar nichts anders übrig. Doch Wissen ist Macht, wie nun auch die Männer bemerken.

2. Weil Merkel eine Frau ist, darf sie auch scheitern.

Frauen haben ein Privileg: Sie dürfen versagen. Es wird geradezu von ihnen erwartet. So war niemand wirklich erschüttert, als Merkel am 18. September nur 35,2 Prozent erzielte. Ein Mann hätte nach diesem Desaster nicht mehr die Kanzlerschaft beanspruchen können; bei Frauen hingegen gehört Scheitern zur Rolle. Das wird der Kanzlerin helfen, wenn die momentane Merkelmania endet. Verrisse wird es schon deswegen geben, weil die Medien von Neuigkeiten leben und Dauerlob langweilig ist. Darauf setzt auch Vizekanzler Müntefering, der in den Umfragen bisher schlecht aussieht: Für ihnen dauert es „nur noch Wochen“, bis der „rote Teppich eingerollt“ wird. Doch das kann Frau Merkel nicht so treffen wie einst den eitlen Schröder.

3. Die große Koalition ist populär, weil vieles wie früher bleibt – nur das Feeling ist besser.

Die Deutschen mögen keine Reißschwenks und schroffen Wechsel, sondern lieber sanfte Überblendungen. Dem kommt die große Koalition entgegen. Im Bundesinnenministerium sitzt noch immer ein alter Mann, der mehr Sicherheit will und es mit dem Grundgesetz nicht so eng sieht. Im Umweltministerium verteidigt ein Niedersachse noch immer den Atomausstieg. Spitzensozialdemokraten verschärfen noch immer die Hartz-Gesetze und kürzen die Rente. Vieles ist wie früher – nur das Feeling ist besser.

4. Die Union wirkt in der Großen Koalition moderner.

Bis weit in die Mitte reicht die Sorge, dass die Stoiber&Koch-Union kulturell zurück in die 50er-Jahre will. Doch Familienministerin Ursula von der Leyen ist dabei, diese Vorbehalte zu zerstreuen: Vom Elterngeld werden genau jene urbanen Mittelschichten profitieren, die eine „Frau zurück an den Herd“-Wende befürchteten. Das Image der biederen, altbackenen Union, die den Anschluss an die bundesrepublikanische Moderne verpasst hat, verblasst. Die Union wirkt plötzlich moderner – fast wie Rot-Grün. Kein Wunder: Das Elterngeld ist eine rot-grüne Idee.

5. Die große Koalition kann lange halten, weil die Union zur SPD wird und die SPD zur Union.

Die ersten hundert Tage der Koalition sind recht friedlich verlaufen. Das war überraschend, nachdem sich im Wahlkampf alle sehr angestrengt hatten, fundamentale Alternativen zu inszenieren: das neoliberale Duo Merkel/Westerwelle gegen Schröder, der sein sozialdemokratisches Herz wiederentdeckt zu haben schien. Doch das war nur Schein. Von der Union sind die neoliberalen Kampfposen, die die Parteimehrheit eher schweigend ertragen hatte, abgefallen wie eine ausgeliehene schwere Rüstung.

Seit dem Koalitionsvertrag sieht man: SPD und Union sind sich im politischen Kerngeschäft weitgehend einig. Die ideologischen Unterschiede verwischen. Merkel fordert einen Mindestlohn und neue Gerechtigkeit – sie klingt dabei wie Platzeck. Und streiten sich die Koalitionäre, dann mit vertauschten Rollen: Seehofer kritisiert Müntefering, weil die Rente ab 67 unsozial sei. Wirtschaftsminister Glos votiert für deftige Lohnerhöhungen. Die große Koalition, die doch nur eine Notlösung war, kann lange halten. Politisch setzt sie den Schröder-Kurs fort: Der Sozialstaat wird ab- und umgebaut, aber ohne aggressive Rhetorik und ohne „Durchregieren“. Krachen dürfte es nur in zwei Situationen: Wenn die SPD bei den nächsten Landtagswahlen katastrophal verliert. Oder wenn die USA Iran bombardieren und Merkel die USA unterstützt.

6. Die Große Koalition schafft mehr Ungleichheit – wie Rot-Grün. Nur bemerkt es fast niemand.

„Die Bürger wollen keinen Streit“, hat Merkel richtig erkannt. Da jedoch nur Debatten für mediale Aufmerksamkeit sorgen, bleibt verborgen, wie die große Koalition still Fakten schafft. Ein Beispiel: 2006 gilt als das Jahr, in dem innenpolitisch noch nichts entschieden wird. Tatsächlich jedoch werden die Konsumenten mit 9 Milliarden Euro belastet – von der gestrichenen Eigenheimzulage bis hin zu den Hartz-IV-Kürzungen. Die Unternehmen dagegen erhalten eine weitere Milliarde geschenkt. Aber wen interessieren schon Abschreibungsregeln? Da ist die Dauerdebatte über das Elterngeld viel spannender.

7. Merkel ist erfolgreich, weil sich jeder verstanden fühlt.

Merkels Machttrick ist einfach und effektiv: Sie versteht alle und legt sich nicht fest

Merkel will „neue Gerechtigkeit durch mehr Freiheit“. Aber was heißt das konkret? Das fragen sich auch die Wirtschaftsbosse. Ein Besuch im Kanzleramt brachte ihnen wenig Klarheit – aber das Gefühl, dass Merkel irgendwie auf ihrer Seite ist. Irgendwie fühlen sich auch die Gewerkschaften verstanden. Merkel habe „begriffen, dass man mit neoliberalen Ideen keine Mehrheiten bekommt“, freute sich DGB-Chef Sommer. Merkel ist eine Männer-Versteherin.

Doch obwohl sie sich nicht festlegt, wirkt Merkel völlig klar. Zumindest auf ihre Gesprächspartner. Allseits werden ihr „Pragmatismus“ und ihre „Nüchternheit“ gerühmt. Der Trick scheint so zu funktionieren: Schnörkellos formuliert Merkel die Probleme – die Lösungen aber bleiben vage. So analysiert die Kanzlerin zutreffend, dass der Sozialstaat zusammenbricht, wenn die normalen Beschäftigungsverhältnisse schwinden. Aber wie werden die Sozialkassen dann gefüllt? Die Antwort klingt so sozialdemokratisch wie rätselhaft: „Ich möchte, dass sich alle mit ihrem gesamten Einkommen an den Gesamtkosten des Systems beteiligen.“ Auch beim Kombilohn, den Merkel will, ist unklar, wie er finanziert werden soll, ohne den Staatshaushalt zu sprengen.

Klare Unklarheit – dieser Trick funktioniert, weil bislang niemand eine Lösung von Merkel erwartet. Das hat sie auch der SPD zu verdanken, die sich unbedingt als „Reformmotor der Koalition“ inszenieren will.

8. Von der Großen Koalition profitiert die Union, die SPD sucht noch immer ihre Rolle.

Die Merkel-Union wirkt moderner, mittiger, unideologischer. Die SPD hingegen scheint das gleiche Stück aufzuführen wie in den letzten sieben Jahren. Anstelle von Schröder gibt Müntefering den Staatsmann, der eisern die unfrohen Botschaften verkündet – von der Rente ab 67 bis zur Leistungskürzung für Jugendliche bei Hartz IV. Die SPD-Linke ist nach wie vor auf Tauchstation und fahndet vergeblich nach einem realistischen, mehrheitsfähigen Konzept, das den langsamen Sozialstaatsabbau stoppen kann. Die Partei wirkt genauso gegängelt wie unter Schröder. Platzecks Versuch, mit Familie und Bildung ein neues Thema vorzugeben, sind enge Grenzen gesetzt – weil die Union mit von der Leyen das gleiche Thema im Kabinett für sich reklamiert. Weil Müntefering tapfer Zumutungen verkündet, kann Merkel glänzen. Die SPD steckt in einer Falle.

9. Der Beweis dafür, dass die große Koalition die Selbstlähmung der Politik überwinden kann, steht noch aus.

Die neue deutsche Wohlfühlstimmung breitet sich auch aus, weil der Bundesrat nicht mehr blockiert. Schließlich hat die große Koalition auch dort die Mehrheit. Es geht voran. Lassen sich also endlich die nötigen fundamentalen Reformen durchsetzen? Der Beweis dafür steht aus. Die Probe heißt: Föderalismusreform. Die positive Nachricht: Es gibt sie. Immerhin wurde die Zahl der Gesetze halbiert, denen der Bundesrat zustimmen muss. Aber der Preis ist hoch. Ausgerechnet die Bildungspolitik wird regionalisiert. Die Folge: In armen Ländern wie dem Saarland werden die Schulen schlechter und ärmer als in reichen wie Bayern. So gibt es noch mehr Ungleichheit in der Bildung – und zudem ein chaotisches Umweltrecht. Schuld daran sind die Länder. Doch wenn diese Koalition keine brauchbare Föderalismusreform durchsetzen kann, fragt sich: Wofür brauchen wir die große Koalition?