Bürger aller Länder, vereinigt euch!

Feine Unterschiede (6): Bürgerlichkeit war im 19. Jahrhundert eine Art Benutzeroberfläche – Moral und Anstand ordneten die neue dynamische Gesellschaft. Ist die Suche nach Neuer Bürgerlichkeit nun die Suche nach einer aktuellen Benutzeroberfläche?

■ Gibt es sie, die viel beschworene Neue Bürgerlichkeit? Soll es sie geben? Wie fühlt sie sich an? Auf der anderen Seite: Lässt sich das Antibürgerliche wirklich noch mit Konzepten von Selbstverwirklichung verknüpfen?Eine Reihe mit Studien zum Bürgerlichen, Neo-, Alt- oder Anti-, zwischen Aufbruchstimmung und Restekel

VON ARMIN NASSEHI

Als Bürgerlichkeit noch ein Schimpfwort war, wusste man noch, was damit gemeint war. Bürgerlich waren diejenigen, die die Verhältnisse bewahren wollten. Bürgerlich waren diejenigen, die an die alte Verheißung glauben wollten, dass jeder seines Glückes Schmied sei. Bürgerlich waren vor allem diejenigen, die den Egalitarismus auf gleicher Augenhöhe mit dem Distinktionsgewinn gegen die anderen kombinieren konnten. Bürgerlich waren also jene, die sich als relativ eindeutige Trägergruppe identifizieren konnten und denen man das am Lebensstil ansehen konnte – an ihrer Architektur ebenso wie an ihrem Musikgeschmack, an ihren selbst kontrollierten Lebensformen ebenso wie an der Anstrengung, einen möglichst unangestrengten Eindruck zu machen, am Glauben an die Ordnung einer Gesellschaft, in der oben und unten, Männer und Frauen, Eigene und Fremde, Legitime und Illegitime, Gewinner und Versager identifizierbar waren.

Diese Identifikation hatte soziale Folgen, und so fügte sich die Beschreibung der Gesellschaft einer Ordnung, deren Bürgerlichkeit insbesondere darin bestand, das individuelle Wollen mit dem überindividuellen Sollen zu verbinden. Bürgerlichkeit war vor allem ein Habitus mit Publikum. Die bürgerliche Form der Kommunikation rechnet mit Sprechern, die aus freien Stücken wollen, was sie sollen, und die in der Lage sind, sozialen Zwang und gesellschaftliche Erwartungen durch Einsicht in die Notwendigkeit zugleich zu entschärfen und zu verschärfen.

Entschärft wurde sie, weil man nun in einer Gesellschaft leben konnte, in der der soziale Zwang nicht mehr handgreiflich und von außen gesichert werden musste, sondern durch Motive und subjektive Selbsteinschränkungen geleistet wurde. Genau das aber war die Verschärfung: Es bedurfte nun des Selbstzwangs in Form von Arbeits-, Leistungs-, Zahlungs- und Sexualmoral, von konsistenten Lebensentwürfen und Karrieren, von erzählbaren Biografien und Selbstzurechnung auf eigene Leistung – auch im Versagensfall.

Bürgerlichkeit gehört nicht mehr zu den Schimpfwörtern der Moderne. Das 19. Jahrhundert kehrt vielmehr zurück. Bürgerlich ist daran nicht die neue Lust an den ästhetischen Chiffren der Altbauwohnung und des Streichquartetts, an privater Gemeinwohlorientierung jenseits staatlicher Intervention oder an der neuen Ernsthaftigkeit im Feuilleton. Bürgerlich ist vielmehr die Funktion, die der bürgerliche Diskurs (wieder) einnimmt.

Die Idee des selbstverantwortlichen, an eigener Leistung und der Harmonisierung von Wollen und Sollen orientierten Bürgers des 18. und 19. Jahrhunderts war Ausdruck einer Gesellschaft, die ihre zentralen Regulatorien sehr abstrakt ordnete: in Form von ökonomischen und politischen Codierungen, in der Privatisierung des religiösen Glaubens und der rechtlichen Regulierung durch Motive und Zurechnungen. Enger äußerer Zwang konnte in noch engeren inneren Zwang umgeleitet werden – und so wurde eine Gesellschaftsform denkbar, deren äußerer Ordnung eine innere Ordnung entsprach und die soziale Ordnung als individuellen Charakter und Eigenleistung ausgeben konnte – bis Sekundärtugenden sogar reichten, ein KZ zu führen, wie der Bürgerschreck Oskar Lafontaine einmal formulierte.

Die Idee des Bürgers, basierend auf dem Leistungs- und dem Loyalitätsprinzip, war ausgestattet mit den Segnungen biografischer Unverwechselbarkeit und individueller Stilisierbarkeit – wenigstens als Idee, die sich paradoxer Weise kopieren lässt. Der Bürger war Mensch, Mensch schlechthin – eine „soziale Lage“ hatte nur das Proletariat und verwies damit auch den Bürger darauf, dass er ein gesellschaftliches Leben führte.

Nur deshalb ließ sich mit Bürgerlichkeit ein Kulturkampf um das richtige Leben führen, an dem sich ästhetische und ethische Standards anlagerten, die zu geradezu „menschlichen“ Qualitäten wurden. Bürgerlichkeit hatte den Funktionssinn, eine Gesellschaft mit Ordnung zu versorgen, deren naturwüchsige Optionssteigerungen ökonomischer, wissenschaftlicher und politischer Natur im 19. und frühen 20. Jahrhundert erst jene gesellschaftliche Unordnung ermöglichte, der Europa seinen unvergleichlichen Aufstieg zu verdanken hatte.

Deshalb war gerade die fortschrittlichste Trägergruppe zugleich kulturell konservativ und versöhnte die Nation mit dem Kapitalismus, den innerlichen Glauben mit äußerer Toleranz, Bildungsbeflissenheit mit der Irritationsresistenz und familiäre Enge mit der Weite der zu unterwerfenden Welt.

Zum Schimpfwort wurde Bürgerlichkeit erst dann, als die ökonomischen und politischen Optionssteigerungen sich einer neuen Ordnung fügten, die das Selbstbild des heldischen Bürgers nicht mehr brauchte, sondern loyale Leistungsempfänger staatlicher Leistungen und nationalökonomischer Versorgungs- und Leistungsarrangements. Vielleicht hat Jürgen Habermas diese sozialdemokratische Form der wechselseitigen Loyalitätsversprechen der zweckrationalen „Systeme“ mit den Kollektivitätsversprechen einer „Lebenswelt“ am nachhaltigsten auf den Begriff gebracht.

Solche Loyalitätsversprechen brauchen dann keine bürgerlichen Helden mehr, weil sie Wollen und Sollen gewissermaßen in einer Tarifpartnerschaft kommunizierender Röhren versöhnen. Der vormalige Bürger gewöhnt sich an seine eigene Proletarisierung, weil Helden eben nicht mehr gebraucht werden – proletarische Helden der Arbeit übrigens auch nicht mehr.

Dass der Bürger als Figur wiederkehrt – mit allen distinktiven Affekten, mit der Selbstdistanzierung von seiner eigenen Proletarisierung und mit dem geradezu hilflosen Festhalten an den alten Fassaden bürgerlicher Distinktionssymbole –, könnte ein Symptom dafür sein, dass das bequeme Arrangement einer postheroischen Versorgungsgesellschaft vorbei ist. Debatten nehmen offensichtlich wieder die Form des Kulturkampfes an – mit Betonung auf Kultur. Kultur als Medium, alles miteinander kommensurabel zu machen und damit voneinander zu trennen, lebt von der Distinktion, von einer bigotten Form der Anerkennung, die eben kein gemeinsames Medium mehr kennt, sondern nur den Vergleich ohne Vergleichsmaßstab.

Das gilt für Lebensstile und Konsumstile ebenso wie für die Dramatik, mit der soziale Ungleichheiten wieder in solche Stile hineinregieren. Es gilt auch für die Standards in bioethischen Debatten, für religiöse Authentizitäten ebenso wie für die globale Inszenierbarkeit von religiösen Gefühlen, die keine Karikaturen braucht, um sich von ihnen verhöhnt zu fühlen. Wechselseitige Distinktionsgewinne nehmen empirisch unterschiedliche Formen an – entweder das Authentizitätsgehabe eines Individualismus, der in der kosmopolitischen Anerkennung des Anderen seine Erfüllung findet, oder aber den Kulturkampf, in dem der Sinn der Distinktion der Distinktionsgewinn selbst wird. Das ist übrigens eine Chance, dass das Abendland wieder „christlich“ wird, der Proletarier proletarisch – und eben der Bürger bürgerlich.

Es stimmt wohl, dass wir uns wahrscheinlich daran gewöhnen müssen, dass große Teile westlicher Bevölkerungen ästhetisch und ethisch kaum mehr disziplinierbar sind – und es gibt keinen Grund, das schon per se für falsch zu halten, auch wenn es bisweilen nicht wirklich gefallen kann. Gefallen kann es jedenfalls nicht in dem klassischen Sinne des bürgerlichen Normalmodells, das ja schon der westlichen Leitkultur des transatlantischen Abendlandes kaum mehr abhanden kommen kann.

Die Semantik des Bürgerlichen mit ihren Chiffren der Moral und des Anstands, der Selbststeuerung und des langen biografischen Atems simulierte die Integration einer Gesellschaft, die ihre Dynamik gerade durch Verzicht auf prinzipielle Ordnungsvorstellungen der Alten Welt erreichte. „Bürgerlichkeit“ war gewissermaßen eine Art „Benutzeroberfläche“ für ein Geschehen, das seiner eigenen Dynamik folgte.

Eine ähnliche Entkoppelung gesellschaftlicher Entwicklungen von kalkulierbaren Lebensformen scheinen wir derzeit auch zu erleben – nicht nur ökonomisch übrigens, sondern auch medial, ästhetisch und womöglich sogar religiös. Die Feuilletonsuche nach einer Neuen Bürgerlichkeit scheint mir wie die Suche nach einer neuen Benutzeroberfläche – vielleicht ist es das funktionale Äquivalent für die neue Macht der Evangelikalen in den USA, wo man das Bürgerliche eben gar nicht verlieren konnte.

Daraus nun analytische Konsequenzen für die Diagnose einer funktional differenzierten Gesellschaft zu ziehen, deren Eigendynamik wie im 19. Jahrhundert „bürgerliche“ Gegenreaktionen auslöst, ist eine Sache. Eine andere ist es, sich in dieser Diagnose selbst zum Mitspieler zu machen. Wo die Beschreibung der Neuen Bürgerlichkeit aber selbst Teil des Distinktionskampfes wird, wird sie entweder naiv wie bei Udo di Fabio oder irgendwie unappetitlich wie bei Paul Nolte – und noch an dieser meiner Kritik kann man sehen, wie sehr wir unsere sozialdemokratische Lektion gelernt haben und wie eng wir in der gesellschaftlichen Benutzeroberfläche unserer Habermas-Welt zu leben gelernt haben, in der alles seinen Platz hatte – tempi passati.

In diesem Sinne erschallt bestimmt bald der Ruf: „Bürger aller Länder, vereinigt euch!“ Denn heute hat der Bürger eine gesellschaftliche Lage, das unterscheidet ihn von seinem Vorgänger.

Der Autor ist Professor für Soziologie in München. Von ihm erscheint im April das Buch „Der soziologische Diskurs der Moderne“ (Suhrkamp)