Volkskunst, Krach und Dröhn-Séancen

Geist sickerte wie Tau aus den Akkorden: Am Samstag gingen in Stockholm die New Music Days zu Ende

Für Schweden ist es eine gute Woche geworden. Anja Pärson fährt das Rennen ihres Lebens. Die Eishockeymannschaft schlägt Finnland im Endspiel. Und endlich hat man den Erzrivalen Norwegen an winterolympischem Gold übertreffen können. Auch musikalisch ist es in den letzten Tagen gut gelaufen. In Stockholms mittelalterlicher Tyska kyrkan, der „deutschen Kirche“, entdeckt ein schwedisches Vokalensemble das spirituelle Potenzial der Harmonien von Claudio Monteverdi und Luigi Nono, lässt Geist wie Tau aus den Akkorden sickern, das Publikum erliegt einer Erleuchtung. Der Künstlergruppe Guds söner (Söhne Gottes) gelingt es, im Rahmen einer elektroakustischen Séance Kontakt zum spekulativen Wissenschaftler Emanuel Swedenborg (1688–1722) herzustellen; auch wenn seine Antwort, ein subsonorischer Drone, nicht auf Anhieb zu entziffern ist. Und in einer Battle of Noise testen Pan Sonic, Lasse Marhaug, Dror Feiler und Carsten Nicolai den prunkvoll verwitterten Ballsaal Nalen auf seine akustische Belastbarkeit – das Gebäude hält stand.

Nun sind die Stockholm New Music Days nicht die Olympischen Winterspiele. Aber als eines der wichtigsten und größten Festivals für zeitgenössische Musik Skandinaviens tragen sie eben doch zum Selbstbewusstsein eines Landes bei, das seit dem Ende seiner imperialistischen Ansprüche vor hundert Jahren vor allem Bescheidenheit und Zurückhaltung kultiviert. Das geht natürlich nicht spurlos an der Kunst vorüber. Auch hier gilt das Theorem: Jeder darf tun, was er will, so lange niemand, also vor allem nicht das Publikum, Schaden nimmt.

Als besonders schadlos erweisen sich da die zahlreichen Werke, die der naturverbundenen Volksseele schmeicheln. „Residues“ heißt zum Beispiel Jesper Nordins in Stockholm uraufgeführtes Orchesterstück: Nordin verschleiert Melodien aus dem hohen schwedischen Norden, indem er sie zu rauen Klangflächen verwebt. Das Ergebnis ist ein wunderschöner, gefühliger Klangkoloss, bei dem man sich auch gleich über nordische Wälder und Seenplatten hinweg schweben sieht. Aber derartige Werke sind nur die halbe und – um ehrlich zu sein – auch die schlechtere Hälfte der Wahrheit.

Denn Kunst ist eben auch ein Ventil, durch das sich der natürlich auch in Schweden existierende soziale Überdruck entlädt. Seit den Sechzigerjahren hat sich deshalb eine Schule der Renitenz herausgebildet, eine eigene Form des Agitprop, die bissig, mit schwarzem Humor und oft überzogenen Behauptungen gegen die politischen Realitäten ins Feld zieht. Zu den Protagonisten dieser Strömung gehörte Åke Hodell, der 1970 mit seiner Anklage „Mr. Smith in Rhodesia“ tatsächlich die diplomatischen Beziehungen zwischen England und Schweden gefährdete. Auf Hodell bezogen sich jetzt vier schwedische Künstler, die sein Tonband-Purgatorium „Djurgårdsfärjan över floden Styx“ an den im Titel angeführten Ort brachten: die Stadtfähre nach Djurgården. Dort entstanden live Hodell-Remixe, mal als poppige Elegie, mal als akustische Vibration, die mit dem Schiffsmotor konkurrierte, aber immer vor ahnungslos staunenden Schulklassen, Rentnern, Geschäftsleuten und Ausflüglern.

Ein weiterer Provokateur der schwedischen Schule ist der 1951 in Israel geborene Künstler Dror Feiler. Berühmt wurde Feiler mit einer Installation, in der er das Foto einer palästinensischen Selbstmordattentäterin als Segel eines auf blutrotem Wasser treibenden Bootes setzte. Auch Feiler provozierte damals eine diplomatische Krise – zwischen Israel und Schweden. In erster Linie ist er allerdings Noise-Musiker, mit einem Hang zu agitativem Pathos und undurchsichtigen Heterofonien. In Stockholm wurde jetzt sein Stück „Se non ora, quando?“ für Ensemble, Live-Elektronik und fünf Gitarrenverstärker uraufgeführt, mit dem er die Reihe seiner brutalen, aggressiven Rausch-Stücke fortsetzte. „Be caressed. But not by me“, heißt es lakonisch in seinem Werkkommentar – als hätte man das Stück missverstehen können. BJÖRN GOTTSTEIN