mail aus manila
: In den Shopping Malls bleibt es ruhig

Ausgerechnet zum 20. Jahrestag der „People Power“-Revolution von 1986 verbietet Präsidentin Arroyo alle Kundgebungen

Am Sonntagabend sitze ich mit den Studenten meines Seminars über asiatische Horrorfilme im Kino einer Shopping Mall. Gezeigt wird „Dyesebel“, ein philippinischer Fantasy-Film von 1953 über eine Meerjungfrau. Der Schwarzweißfilm – ein Klassiker, der immer wieder neu verfilmt worden ist – galt lange als verschollen. Nun wurde eine Kopie in einem Archiv in Bangkok gefunden. Heute Abend ist der Film zum ersten Mal nach einem halben Jahrhundert wieder in Manila zu sehen. Mitten in der Vorstellung stehen meine Studenten plötzlich wie ein Mann auf und gehen. Einer kommt noch zu mir und sagt: „Sir, es hat einen Putsch in Fort Bonifacio gegeben. Ich habe eine SMS bekommen; es wird empfohlen, sich von Shopping Malls fern zu halten.“ Dann sind sie weg.

Nach dem Kino zu Hause angekommen, sehen wir im Fernsehen, dass sich ein abgesetzter Marine-General mit seinen Soldaten in der Kaserne Fort Bonifacio verschanzt hat und die Bevölkerung um Hilfe ruft. So gut wie niemand kommt, nach vier Stunden hat sich die Lage beruhigt, und die Polizei schickt die Schaulustigen nach Hause. In den Shopping Malls bleibt es ruhig.

Der General gehört zu einer Gruppe, die angeblich eine Coup d’état plante. Die Regierung hat dafür bislang keinerlei Beweise vorgelegt. Aber Präsidentin Arroyo hat am Wochenende den Ausnahmezustand verhängt, einige ihrer hartnäckigsten Gegner verhaften lassen und Soldaten in einige Zeitungs- und Fernsehredaktionen geschickt. Dort sollen sie darauf achten, dass „fair und ausgewogen“ berichtet wird.

Die Philippiner waren immer stolz darauf, die älteste Demokratie Asiens zu sein und die freieste Presse der Region zu haben. Von einem Tag auf den anderen scheint das vorbei zu sein. Bisher gibt es außer scharfen Zeitungskommentaren keine größeren Proteste; Demonstrationen sind verboten. Bis Freitag waren die Philippinen das Land, in dem man hervorragend bei Ausstellungseröffnungen mit einem Glas spanischem Rioja in der Hand über die Regierung schimpfen konnte. Nun gibt der Polizeichef Interviews, in denen er Journalisten warnt, „rebellische und zum Aufstand aufstachelnde“ Artikel zu veröffentlichen. Linke Universitätsprofessoren ereiferten sich in ihren Vorlesungen über die Präsidentin. Nun schließt die Regierung alle Schulen und Universitäten, um „Zusammenrottungen“ zu verhindern. Die friedliche „People Power“-Revolution von 1986, mit der der Diktator Ferdinand Marcos abgesetzt wurde, war zwei Dekaden lang eine Quelle nationalen Stolzes. Nun hat Präsidentin Arroyo die Chuzpe, ausgerechnet zum 20. Jahrestag von „People Power“ alle Kundgebungen zu verbieten und einen Ausnahmezustand zu verhängen, der verdächtig an das Kriegsrecht erinnert, mit dessen Hilfe Marcos neun Jahre lang das Land unterdrückte und ausplünderte.

Dessen Frau Imelda Marcos fährt schon lange wieder in einer Limousine durch Manila und verteilt Autogrammkarten. Ihr Verfahren wegen Veruntreuung läuft seit Jahren. Ihre Tochter sitzt im Kongress, ihr Sohn ist Gouverneur der Provinz Illocos-Norte. Marcos’ einbalsamierte Leiche liegt tiefgefroren in einem Mausoleum in seiner Heimatstadt, weil ihm ein Staatsbegräbnis verweigert wird. Seine Familie zahlt seit Jahren die Stromrechnung nicht, und die Stadtwerke wagen es nicht, ihnen den Saft abzudrehen.

Ein großer Teil der Bevölkerung lebt wie zu Marcos’ Zeiten in Wellblechhütten und muss mit 50 Cent pro Tag auskommen. Der besonders dreiste Kleptokrat Joseph Estrada wurde 2001 abermals durch eine „People Power“-Revolte abgesetzt. Geändert hat sich nichts. Als im vergangenen Jahr herauskam, dass Präsidentin Arroyo wohl durch Manipulationen die Wahl gewonnen hat, gab es Demonstrationen, aber sie blieb im Amt.

Es wirkt, als hätten die Philippiner ihr Land einfach aufgegeben. Pro Jahr verlassen 800.000 von ihnen das Land, um in Hongkong und Singapur, in Saudi-Arabien, den USA und Kanada zu arbeiten. Diejenigen, die hier bleiben, werden sich vielleicht nicht noch mal zu einer friedlichen Revolution aufraffen können. Obwohl die Philippinen in den Tropen liegen, wirkt es hier auf einmal ziemlich kalt.

TILMAN BAUMGÄRTEL