Weltbank entdeckt den Staat und linke Ideen

In einer Lateinamerika-Studie kommt die Weltbank zu überraschenden Einsichten: Wachstum hilft Armen nicht

BERLIN taz ■ Die Weltbank scheint vor einem radikalen Politikwechsel zu stehen: Mehr statt immer weniger Staat, lautet die überraschende Botschaft eines neuen Berichts über „Armutsreduzierung und Wachstum“ in Lateinamerika. Darin verabschiedet sich die Entwicklungsbank von ihrer bisherigen Überzeugung, dass Deregulierung, Abbau der Handelsschranken, Privatisierung und strikte Haushaltsdisziplin der einzig Weg zu mehr Wachstum und damit zu weniger Armut seien. Stattdessen setzt die Weltbank auf keynesianistische Ideen und fordert höhere staatliche Ausgaben.

In dem Bericht räumt die Weltbank ein, dass Freihandel zumindest kurzfristig Armut und Ungleichheit vergrößern kann. Mehr noch: Zu viel Armut und nicht zu viel staatliche Regulierung würden das Wachstum behindern. „Armutsbekämpfung ist nicht nur gut für die Armen“, sagt der Weltbank-Chefvolkswirt für Lateinamerika, Guillermo Perry, „sie ist auch ein gutes Geschäft.“ Zuständig für diese neue Politik: der Staat. Die Studie fordert nicht weniger, als „den Staat in eine Kraft zu verwandeln, die Chancengleichheit fördert und für effektive Umverteilung sorgt“ – für Weltbank-Verhältnisse wahrhaft linksradikales Gedankengut.

Lange Zeit galt die Doktrin „Je mehr Wachstum, desto mehr Beschäftigung und damit auch mehr Einkommen“. Doch die Praxis hält sich nicht an die Theorie. Die Wirtschaft in Boomländern wie China wächst – aber die Arbeitslosigkeit nimmt nicht ab. Der Reichtum wird größer – aber die Zahl der Armen weltweit wird kaum geringer. In den verschuldeten lateinamerikanischen Ländern, die sich gezwungenermaßen besonders streng an die Weltbank-Rezepte hielten, blieben jedoch nicht nur die Erfolge bei der Armutsbekämpfung aus. Hier kam es nicht mal zu nennenswerten Wachstumsraten. Sie lagen in den Neunzigerjahren bei gerade mal 1,5 Prozent jährlich.

Offenbar hat neoliberale Politik nicht zum gewünschten Ziel geführt. Die Armen können weder nennenswert konsumieren noch selbst ein Geschäft aufziehen noch in die Ausbildung ihrer Kinder investieren. Zudem wachsen die sozialen Spannungen. All dies sind ganz schlechte Voraussetzungen für private Investoren. Die Weltbank rät zu höheren Ausgaben, vor allem für Bildung, Infrastruktur in den armen Gegenden und Kreditprogramme für Arme. Daher dürfen ab sofort auch Steuern – bislang als schädlich fürs Geschäftsklima verteufelt – erhöht werden.

NICOLA LIEBERT