Die Unschuld der Gräser

First Contact in Virginia: Mit „The New World“ hat Terrence Malick die Pocahontas-Legende verfilmt. Er kontempliert Baumkronen, lässt Blätter rascheln und labt sich an den Kindern der Natur. Der Film wird dabei zum mythopoetischen Schmarrn

von ANDREAS BUSCHE

Terrence Malick ist ein Enigma im Öffentlichkeits-fixierten Hollywoodgeschäft. Ein Eremit, dem Autor Thomas Pynchon ähnlich. Die Nichtverbreitung von Pressefotos lässt er vertraglich regeln. In unregelmäßigen Abständen dreht er unwirklich-schöne Filme, die in ihrer Verrätseltheit einigermaßen verloren in der Filmgeschichte herumstehen. Malicks übersichtliches Werk ragt wie ein Solitär aus dem Kanon an Filmklassikern heraus, nicht nur durch seine ästhetische Geschlossenheit. Von den stilistischen Mitteln, die Malick in seinem neuen, nunmehr vierten Film, „The New World“, verwendet, finden sich schon Spuren in seinem Debüt „Badlands“ (1973): die Verfremdungseffekte klassischer Musik (hier Orff, da Wagner), die Kontemplation in und an der Landschaft, das Ausklinken aus einer zeitlichen Erfahrung. Was Malicks Filme in erster Linie verbindet, und dies tritt in „The New World“ besonders deutlich hervor, ist bei allem Stilwillen nicht so sehr die Fixierung eines künstlerischen Oeuvres, sondern der phänomenologische Entwurf eines Stimmungsbildes, einer gefühligen „Weltwahrnehmung“, die das Rationale sukzessive ausklammert.

Schlüssel zu diesem Gefühlszustand ist bei Malick immer wieder die Natur, mit der seine Figuren interagieren. War die Landschaft in „In der Glut des Südens“, die endlosen texanischen Weizenfelder, noch geprägt von der Arbeit der Erntehelfer, betraten zwanzig Jahre später die amerikanischen GIs in „Der schmale Grat“ die Pazifikinsel Guadalcanal bloß noch als Eindringlinge; Tod und Verderben schleppten sie in die unberührte Welt. An dieses Thema knüpft „The New World“ unmittelbar an. Der Film erzählt die Geschichte der ersten englischen Siedler, die im Jahr 1607 an der marschigen Küste des späteren Virginia landeten. Es ist frappierend zu beobachten, wie sehr sich die Bilder von „The New World“ und Malicks letztem Film, „Der schmale Grat“, ähneln: Sonnenlicht, das sich in Baumkronen bricht, im Wind schwingende Grashalme, Tieraufnahmen, irritierende Schwenks mitten im Schlachtengetümmel (mal gen Himmel, mal auf einen sterbenden Vogel). Malicks Versuch, den Pazifikkrieg und die Besiedlung des amerikanischen Kontinents mit ähnlichen ästhetischen Mitteln zu erzählen, könnte natürlich interessante politische Rückschlüsse nach sich ziehen. Doch von den weltlichen Belangen der Politik und des Kolonialismus wendet der Film sich rigoros ab. Stattdessen verfällt „The New World“ früh in einem Zustand vorrationaler Vergeistigung.

Malick interessiert sich in erster Linie für das historisch nicht gesicherte Liebesverhältnis zwischen Pocahontas, der Tochter des Algonkin-Häuptlings Powhatan, und dem britischen Soldaten John Smith. Der Pocahontas-Mythos gehört zu den großen Gründungslegenden Amerikas; jedes amerikanische Schulkind kennt die Geschichte des Algonkin-Mädchens und seiner Rettung des gefangenen Captains Smith. Die Legende ist bis heute konstitutiv für das amerikanische Selbstverständnis als melting pot; Pocahontas fungiert in diesem Verständnis als Botschafterin einer friedlich koexistierenden Multikulti-Gesellschaft. Im ersten strengen Winter ist sie es, die den Bewohnern der amerikanischen Gründungssiedlung Jamestown Nahrung und Kleidung bringt und sie somit vor dem Hunger- und Erfrierungstod bewahrt. Relativ neu hingegen ist das popkulturelle Hirngespinst einer Liebesaffäre zwischen Pocahontas und dem fünfzehn Jahre älteren Smith. Dieses Gerücht geht vermutlich auf Peggy Lees Song „Fever“ zurück. Klaus Theweleit hat darin einmal die Trope des „Juvenile Delinquent“-Genres ausgemacht: Die rebellische Tochter probt den emotionalen Aufstand. Den Unschuldsverlusts der amerikanischen Rock-’n’-Roll-Generation hat Malick in „The New World“ allerdings kurzerhand in sein Gegenteil verkehrt.

Dass die Algonkin, die den europäischen Siedlern von Beginn an reserviert gegenüberstanden, hier lediglich „Naturals“ heißen, verrät bereits viel über Malicks Weltbild. Die Newcomerin Q’Orianka Kilcher spielt Pocahontas als naives Naturkind, das sich ganz im Einklang mit den Bäumen, Halmen und dem Himmel befindet. Malicks Bilder beschwören eine Verzauberung der Natur, aber je tiefer und überwältigter wir in den Dschungel blicken, desto eindringlicher schwillt das ätherische Rauschen an, das diese Sinnsuche produziert. Interessant ist hier, wie einerseits die dominante Tonspur (Insekten, Blätterrascheln, Wasserplätschern) und andererseits die in diesem Zusammenhang fremdartige Musik (außer Wagner die tiefen schwingenden Drones des Komponisten James Horners) gegenteilige Effekte hervorrufen: Der Kontrast aus Hypernaturalismus und ästhetischer Überhöhung treibt den Wäldern jede Natürlichkeit aus. Was „The New World“ vollkommen fehlt, ist das einfache Staunen und die spielerische Lakonie, wie der thailändische Regisseur Apichatpong Weerasethakul sie in „Blissfully Yours“ und „Tropical Malady“ so bewundernswert vorgeführt hat.

Im selben Maße, wie Malick mit „Der schmale Grat“ das Kriegsfilm-Genre entkernt (das Todespathos, den Gefechtsirrsinn, das Männerbündlerische), höhlt er mit „The New World“ den Pocahontas-Mythos aus. Die reservierte Aufnahme des Films in den USA spiegelt wider, wie indifferent sich Malick der Legende der birth of a nation annähert. Weder hat es dazu gereicht, die konservativen Kräfte zu mobilisieren, noch die linksliberale Kritik aus der Reserve zu locken. Für einen Regisseur, der seine Filmprojekte derart handverliest, ist ein mythopoetischer Schmarrn wie „The New World“ maßlos enttäuschend. Schlimmer noch: Die Light-Version des „Pocahontas-Komplexes“ legt eine gründliche Revision von Malicks Gesamtwerk nahe.

„The New World“. Regie: Terrence Malick. Mit Q’Orianka Kilcher, Colin Farrell u. a. USA 2005, 136 Min.