RECHTSCHREIBREFORM: ES WIRD WIEDER EIN BISSCHEN KOMPLIZIERTER
: Triumph der Anarchie im Land des Chaos

Hoffentlich ist jetzt wirklich alles vorbei. Hoffentlich werden nie wieder 16 Ministerpräsidenten über die Rechtschreibung streiten, werden Schriftsteller je noch den Untergang des Abendlandes herbeischreiben, wird sich keine Zeitung mehr mit der angeblichen oder tatsächlichen Rückkehr zur alten Rechtschreibung wichtig machen.

Ein Jahrzehnt lang hat das Land nun um die neuen Regeln gestritten, zeitweise in einem schrillen Tonfall, als gebe es hierzulande keine drängenderen Probleme. Die Reformgegner propagierten eine Rückkehr zur „klassischen“ Rechtschreibung – und übersahen dabei, dass literarische Klassiker wie Goethe oder Schiller von einer deutschen Rechtschreibung noch gar nichts wussten. Sie schrieben ganz einfach, wie es ihnen gefiel.

Die von den Kultusministern nun beschlossene Reform der Reform bedeutet zumindest teilweise eine Rückkehr zu diesem Zustand der fröhlichen Anarchie. Der Versuch, die deutsche Rechtschreibung gründlich zu vereinfachen und auf ein paar nachvollziehbare Regeln zu reduzieren, war schon in der ersten Version des Reformwerks stark verwässert. Durch die neuerlichen Änderungen ist er vollends obsolet geworden. Die Schüler mögen im Unterricht die neuen Regeln lernen. Von den Erwachsenen blickt keiner mehr durch, und das ist vielleicht auch ganz gut so.

Die Angst vor diesem als Chaos empfunden Zustand war letztlich wohl der tiefere Grund, warum die Debatte in einem solch erregten Tonfall geführt wurde – in Deutschland übrigens weitaus stärker als in der Schweiz oder in Österreich. Nirgends ist die Angst vor dem Chaos als Grundmotiv des politischen Denkens und Handelns stärker ausgeprägt als in Deutschland, und diese Angst hat einen paradoxe Ursache: Deutschland ist mit seinen partikularen und föderalen Traditionen eines der chaotischsten Länder der Welt.

Die Föderalismusreform, von den Kultusministern gestern ebenfalls debattiert, ist ein neuerlicher Versuch, dieses Chaos wenigstens ein Stück weit zu bändigen. Nach den Erfahrungen mit der Rechtschreibreform lässt sich nun leicht vorhersagen, dass dieser Versuch scheitern wird.

RALPH BOLLMANN