„Neue Risiken brauchen neue Sicherungen“

Das öffentliche System der Daseinsvorsorge reicht nicht mehr aus, um die modernen Lebensrisiken abzusichern, meint UN-Finanzexpertin Inge Kaul. Innovative private Ergänzungen zu Rente und Ausbildung seien nötig

Private sind aber weder willens noch in der Lage, die Basisrisiken abzusichern

taz: Sie sind bekannt als internationale Vordenkerin der Entwicklungspolitik. In Ihrem neuen Buch beschreiben Sie eine indische Violinistin, die sich das Geld für ihre Ausbildung bei einer Versicherung leiht. Warum?

Inge Kaul: Das ist ein fiktives Beispiel, um klar zu machen, dass sich das globale System der Staatsfinanzen und der sozialen Sicherung massiv verändert – und auch ändern muss. Die Geigerin wendet sich an die Versicherung, weil sie nur dort eine speziell auf ihre Bedürfnisse zugeschnittene Finanzierung bekommt. Die Höhe der Tilgungsraten ist an die Entwicklung des Berufsmarktes für Violinistinnen gebunden – läuft es gut, zahlt sie viel zurück, wenn sie kein Engagement bekommt, weniger.

Solche Produkte privater Banken und Versicherungen gibt es kaum. Wieso sollten Finanzkonzerne diese anbieten?

Es gibt schon innovative Finanzprodukte. Die privaten Unternehmen sehen durchaus, dass ihre Kunden größeren Risiken ausgesetzt sind, die sie nicht selbst beeinflussen können. Und sie legen natürlich Wert darauf, dass die Kunden in der Lage bleiben, die Kredite zurückzuzahlen. Das macht sie bereit, über neue Finanzierungen nachzudenken.

Wie Sie sagen, geht es dabei um private Konzerne. Warum heißt Ihr Buch dann „Neue öffentliche Finanzen“?

Die modernen Menschen müssen sich mit neuen sozialen Risiken auseinander setzen. So stützen viele Bürger ihre Altersversorgung mittlerweile auf Eigentumsimmobilien, die sie zur Not verkaufen können, um ihre Rente zu sichern. Was aber passiert, wenn die Häuser an Wert verlieren? Das gleiche Problem existiert bei der Altersversorgung, die zunehmend auch auf Aktien basiert. Wir müssen neue Mittel finden, um solche Risiken zumindest abzufedern. Dazu ist die heutige Sozialversicherung aber nicht in der Lage. Das alte System stößt an seine Grenzen.

Liegt das nicht daran, dass den Regierungen durch die vorherrschende Politik der Steuersenkung die Einnahmen fehlen, um eine moderne soziale Sicherung zu finanzieren?

Diese Politik kam aber nicht aus heiterem Himmel, sondern stellte auch eine Antwort dar auf die veränderte Situation der Weltwirtschaft. Auch die Staaten stehen nun in Konkurrenz zueinander. Deshalb können sie nicht beliebig hohe Steuern oder Sozialabgaben einkassieren. Gleichzeitig steigen die notwendigen Ausgaben in den kommenden Jahrzehnten an. Denken Sie nur an die größere Zahl älterer Menschen in den Industrieländern. Oder daran, dass der Staat heute viel mehr Geld für Bildung ausgeben sollte, um seinen Bürger für morgen eine konkurrenzfähige Ausbildung zu ermöglichen.

Wollen Sie die staatlich garantierte soziale Sicherung durch eine private ersetzen?

Auf keinen Fall. Private Unternehmen sind nicht willens und in der Lage, die Basisrisiken für die Mehrheit der Bevölkerung abzusichern. Aber man muss das alte öffentliche System durch ein neues ergänzen. Anleihen zur privaten Absicherung mit flexiblen Tilgungsraten dienen auch nur dazu, Brüche in der persönlichen Einkommensentwicklung zu dämpfen. Sie sind kein Ersatz für die öffentliche Rente oder die Arbeitslosenversicherung.

Unternehmen wie die Deutsche Bank oder die Allianz beteuern zwar, dass sie ihre soziale Verantwortung wahrnehmen. Derartige Vorhaben dringen aber nicht ins Kerngeschäft vor. Was macht Sie optimistisch, dass das anders wird?

Die Firmen müssen sich ihren Markt der Zukunft sichern. Deswegen werden sie Produkte entwickeln, die zu den neuen Bedürfnissen ihrer Kunden passen.

INTERVIEW: HANNES KOCH